Die aus der Ost-Ukraine stammende Juristin Natalia Thoma gewährte Mülheimern jetzt einen Blick in die geschundenen Seelen ihrer Landsleute.
Wie fühlt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine für einen Menschen an, der aus der Ukraine kommt und wie konnte es zu diesem Krieg kommen? Das konnten und wollten interessierte Mülheimerinnen und Mülheimerinnen jetzt im Rahmen der Inforeihe des psychosozialen Krisenmanagements um Merit Tinia und Harald Karutz von Natalia Thoma erfahren. Die ehemalige Chefin des Mülheimer DRK stammt selbst aus der umkämpften ostukrainischen Region Luhansk.
Mit Blick auf die Landkarte der Ukraine, machte die Natalia Thoma deutlich, dass die Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern und ihrem seit der Staatsgründung 1991 völkerrechtlich anerkannten 577.000 Quadratkilometern das größte Flächenland Europas ist, weil die Ukraine, anders als Russland, zur Gänze in Europa liege. Zum Vergleich: In Deutschland leben 83 Millionen Menschen auf 357.000 Quadratkilometern. „In friedlichen Zeiten könnte man von Düsseldorf aus in zwei Flugstunden in Kiew sein“, veranschaulichte Thoma die Nähe des von Putins Truppen überfallenen Landes.
„Glücklich das Volk, dessen Geschichte langweilig ist“, zitierte sie den französischen Philosophen Charles de Montesquieu und fügte hinzu: „In der Ukraine ist das nicht der Fall!“ Thoma gewährte ihren deutschen Zuhörerinnen und Zuhörern einen aufschlussreichen Einblick in die über 1000-jährige Geschichte, die im 9. Jahrhundert mit der Gründung des Großfürstentums Kiewer-Rus begonnen hat und in der Folge ein fast immerwährender Kampf um nationale Unabhängigkeit und die Bewahrung der ukrainischen Sprache und Kultur gewesen ist.
Thoma, von 2018 bis 2021 Geschäftsführerin des Deutschen Roten Kreuzes in Mülheim jetzt wieder als Rechtsanwältin in Düsseldorf tätig, beleuchtete den basisdemokratischen Kosaken-Staat in der Ukraine und die langen Phasen der mehr oder weniger repressiven Fremdherrschaft unter Russland, dem Osmanischen Reich, Polen, Litauen und Österreich-Ungarn. Ausgehend von der ersten ukrainischen Staatsgründung zwischen 1917 bis 1919 beleuchtete die in einem ukrainischen Trachtenhemd auftretende Natalia Thoma die leidvolle Geschichte der Ukraine in der Zeit des Stalinismus und des Zweiten Weltkrieges, als zwölf Millionen Ukrainer an den Folgen von Terrorherrschaft, organisierter Aushungerung und als Opfer des 1941 von Hitler begonnenen Angriffskrieges starben.
Mit Blick auf die Orangene Revolution und den Euromaidan (2014) machte Thoma deutlich, dass sich die große Mehrheit der Ukrainer nach einer freiheitlichen Demokratie im Rahmen der Europäischen Union sehnt.
Und aktuell? „Ich nutze alle Informationsquellen und halte via Facebook und WhatsApp Kontakt mit meinen Freunden in der Ukraine“, erzählte Thoma. „Ich stehe morgens mit dem Krieg auf und gehe abends mit ihm zu Bett. Ich kann verstehen, dass viele Deutsche die schrecklichen Nachrichten aus der Ukraine nicht mehr sehen und hören wollen. Ich aber kann mich dem nicht entziehen.“
Nach ihrer Einschätzung geht es im Krieg Putins nicht nur um einen Angriff auf die Ukraine, sondern auf die liberalen Demokratien des Westens. Deshalb müsse Russland, ähnlich wie Deutschland 1945, eine totale militärische Niederlage erleiden, um sich danach demokratisch erneuern zu können.
„Wir haben durch ihren Vortrag verstanden, mit welchem emotionalen Paket auf dem Rücken die Ukrainer in diesem Krieg um ihr Überleben kämpfen“, lautete eine Publikumsresonanz auf Natalia Thomas Ausführungen. „Ich habe Angst um den Frieden und tue mich schwer mit dem Gedanken an die Lieferung schwerer Waffen“, lautete ein andere.
Ein intensiverer Austausch entwickelte sich zwischen Thoma, die zurzeit ehrenamtlich als ukrainischsprachige Lehrkraft an Schulen arbeitet, und einer Grundschullehrerin, die von ihrer sprachlichen Überforderung berichtete und mit ihrem Bericht aus der Schulwirklichkeit deutlich machte, dass es auch in Mülheim eine strukturelle Überforderung in der pädagogischen Betreuung und Begleitung von Flüchtlingskindern aus der Ukraine gibt.
Natalia Thoma ließ den Abend in der Familienbildungsstätte nicht zu Ende gehen, „ohne auf meinen Landsmann Sergio Sirik hinzuweisen, der das Restaurant Walkmühle betreibt und mithilfe von Geld- und Sachspenden konkrete Hilfe für die Menschen in der Ukraine organisiert.
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