Wir haben noch ein Loch auf der Seite 1 und ich muss jetzt zur Winterreise.“ Mit dieser über den Schreibtisch geworfenen Bemerkung erwischte mich mein Kollege gestern einigermaßen kalt.
Eine Winterreise im Frühling? Und das, wo sich der Frühling jetzt endlich mal von seiner sonnigen Seite zeigt? „Was für ein Theater“, dachte ich bei mir und lag unwissend, aber instinktiv genau richtig. Denn der Kollege, ein echter Musenfreund, wollte kein Theater machen, sondern sich selbst welches anschauen. Vom Theater an der Ruhr war die Rede. So halbwissend zurückgelassen dachte ich sofort an den guten alten Franz Schubert und fragte mich: „Singen die jetzt auch am Raffelberg?“ Doch ein schneller Blick ins Theaterprogramm zeigte mir. Der Kollege begab sich nicht mit Franz Schubert, sondern mit Elfriede Jelinek, der Mülheimer Volxbühne und dem Kölner ATonalTheater auf eine Winterreise durch unseren Zeitgeist und seine symptomatischen Zeiterscheinungen, wie etwa marode Banken, die, wie eine pucklige Braut, für Investoren aufgehübscht werden.
Bei solchen Ansichten und Aussichten auf die Irrungen und Wirrungen unseres Zeitgeistes kann es einen tatsächlich auch im schönsten Frühling frösteln. Dagegen erscheint eine tatsächliche Winterreise, ob mit oder ohne Schubert, wie ein Frühlingserwachen.
Dieser Text erschien am 10. April 2015 in der Neuen Ruhr Zeitung
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