Donnerstag, 20. Oktober 2011

Welche Bedeutung hat die Styrumer Gesamtschule in den letzten 25 Jahren für den Stadtteil gewonnen? Ein Gespräch mit ihrem Schulleiter Behrend Heeren

Heute kann man es sich gar nicht mehr vorstellen. Aber bis 1986 konnte man in Styrum kein Abitur machen. Dann kam die Gesamtschule, die seit 1993 den Namen des ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden Willy Brandt trägt. Welche Bedeutung hat diese Schule mit ihren heute 975 Schülern in den letzten 25 Jahren gewonnen. Behrend Heeren muss es wissen. Der 65-jährige Pädagoge leitet die Schule von Anfang an.

Wie hat sich die Schule in den letzten 25 Jahren verändert?
Die Schule hat an Kontinuität und Stabilität gewonnen. Anfangs hatten wir nur 85 Schüler und begannen als eine Abteilung der Gustav-Heinemann-Schule. Damals mussten wir um unser Standing kämpfen. Doch schon im zweiten Schuljahr hatten wir bei den Anmeldungen Überhänge und das hat sich eigentlich bis heute so gehalten. Heute kommen 60 Prozent unserer Schüler aus Styrum.

Wie hat sich der Stadtteil aus Ihrer Sicht seit 1986 gewandelt?
Der Bau dieser Schule war Teil einer Wohnumfeldverbesserung in Styrum, die auch Früchte getragen hat. Doch seit zehn bis 15 Jahren merkt man, dass die soziale Spaltung des Stadtteils voranschreitet und die soziale Schere weiter aufgeht.Frage: Woran merkt man das?Antwort: Man muss nur mit offenen Augen durch die Straßen gehen und sehen, wie sich Menschen kleiden und bewegen, um zu erkennen, dass die Zahl der sozial schwachen Familien zugenommen hat. Ein Indikator an unserer Schule ist die Tatsache, das über 100 von insgesamt 975 Schülern Leistungen des Bildungsteilhabepaketes und kostenlose Schülerbücher des Schulträgers in Anspruch nehmen.

Welche Rolle spielt die starke türkischstämmige Gemeinschaft in Styrum?
Wir haben inzwischen eine gefestigte türkische Infrastruktur im Stadtteil. Das ist nicht nur von Vorteil, weil damit der Zwang abgenommen hat, Deutsch zu lernen. Neben türkischen Geschäften und Vereinen spielt dabei auch das türkische Satellitenfernsehen eine große Rolle, das es vor 25 Jahren noch nicht gegeben hat.Frage: Wie hoch ist der Anteil der türkischstämmigen Schüler an Ihrer Schule?Antwort: Diesen Anteil schätzte ich in der Sekundarstufe 1 auf 25 bis 27 Prozent. Dabei gibt es auch bei den türkischstämmigen Elternhäusern eine Spaltung zwischen bildungsbewussten und bildungsfernen Elternhäusern. In den bildungsnahen Elternhäusern sprechen die Eltern auch ganz bewusst Deutsch. Früher kamen fast alle türkischstämmigen Styrumer Kinder mit Gymnasialempfehlung zu uns. Heute haben einige bildungsnahe türkische Familien auch das Gymnasium für sich entdeckt. Sie stellen dort aber oft fest, dass ihre Kinder nicht so erfolgreich sind, weil wir hier eine breite Stützungs- und Förderinfrastruktur haben, die Kinder fördert und fordert.

Warum hat eine Gesamtschule, wie die Ihre, in Styrum besonders viel Sinn?
Gerade in einem Stadtteil, in dem sich die soziale Schere immer weiter öffnet, ist es wichtig eine Schule zu haben, die als Klammer wirkt, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dazu trägt das gemeinsame Lernen in unserer Schule bei, in dem die soziale Teilung so lange wie möglich vermieden wird.

Mit der Gründung der Willy-Brandt-Schule konnten Styrumer Schüler erstmals vor Ort Abitur machen. Wie hat sich das auf den Stadtteil ausgewirkt?
Das ist schwer zu sagen, weil wir bisher noch keine Langzeitbiografien erhoben haben. Einige Schüler machen eine Ausbildung. Andere verlassen den Stadtteil, um zu studieren, behalten aber ihre Styrumer Wurzeln. Ein erfolgreiches Bildungsbeispiel ist für mich ein ehemaliger Schüler, der bei uns das Abitur gemacht hat und den ich heute als stellvertretenden Filialleiter regelmäßig in der Styrumer Sparkasse am Sültenfuß treffe.

Welche Bedeutung hat für Sie die in Ihrer Schule ansässige Stadtteilbücherei?
Wir nutzen die Stadtteilbücherei als Schule sehr intensiv, aber auch die Stadtteilbücherei nutzt Räume unserer Schule, etwa für Spiel- und Bastelangebote mit Kindern. Die Leiterin der Stadtteilbücherei, Petra Sachse, stellt regelmäßig Themenapparate für Schüler zusammen. so dass sie in der Bibliothek arbeiten und Aufgaben lösen können. Außerdem haben Schüler zusammen mit der Stadtteilbücherei auch schon eine Ausstellung zum Thema „Widerstand in Mülheim“ erstellt.

Welche Rolle spielt der Stadtteil im Schulalltag?
Er spielt auf vielen Ebenen eine Rolle. Unsere Schüler machen zum Beispiel ihre Betriebspraktika in Styrumer Firmen und Kindertagesstätten. Sie gehen als Lesepaten in die Grundschulen des Stadtteils. Kunstkurse stellen ihre Arbeiten in der Feldmannstiftung oder beim Optiker Früchtenicht aus. Erdkunde- und Kunstkurse haben zum Beispiel Ideen für die Neugestaltung des Sültenfußes oder für die Gestaltung des Naturbades geliefert. Sozialwissenschaftskurse nehmen zum Beispiel die Geschäfte des Stadtteils und ihre Werbung unter die Lupe. Und zurzeit bereitet ein Sozialwissenschaftskurs eine Befragung von Styrumer Senioren vor.

Dieser Beitrag erschien am 20. Oktober 2011 in NRZ und WAZ

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