Samstag, 6. Mai 2023

99 Styrumer Jahre

 Der Styrumer Fritz Heckmann ist einer von 45 Mülheimerinnen und Mülheimern, die 99 Jahre alt sind. Ein Gespräch mit dem vierfachen Familienvater und Nestor des mit dem Mülheimer Heimatpreis ausgezeichneten Styrumer Geschichtsgesprächskreises ist eine spannende „Geschichtsstunde“, die zeigt, wie sich unsere Gesellschaft verändert hat.

Obwohl Styrum mit den Thyssenwerk industriell geprägt war, erinnert sich Heckmann an Felder, „weil Styrum früher weniger bebaut war als heute.“ Heckmanns Vater und Großvater arbeiteten als Schmied und Schreiner auf der Oberhausener Zeche Concordia. Die Familie lebte mit drei Generationen in dem Haus, dass der Großvater 1900 an der Kaiser-Wilhelm-Straße errichtet hatte. Im Erdgeschoss betrieb die Tante einen Lebensmittelladen, in dem der kleine Fritz manchmal die Pumpe des Petroleumfasses bedienen durfte. „Viele Styrumer beleuchteten ihre Wohnungen damals noch nicht elektrisch, sondern mit Öllampen, die regelmäßig begossen werden mussten“, erinnert sich Heckmann. „Salz und das für die Wäsche benötigte Soda wurden mit einer Schäppe aus einer Schublade in Tüten gefüllt“, erzählt der alte Styrumer.

In bester Erinnerung ist ihm sein Volksschullehrer Klang geblieben. Der weckte in der Evangelischen Volksschule an der Augustastraße unter anderem mit Segelflugmodellbau das technische Interesse und damit seine Begabung des Jungen weckte, die er ab 1938 als Mitarbeiter, der an der Neudecker Straße ansässigen Apparatebaufrma Ernst Haage zu seinem Beruf machte, den er bis zu seiner Pensionierung 1988 dort ausüben konnte, ganz ohne Computer. Heckmann lernte das Schreiben noch mit Schiefertafel und Griffel, den die Mutter jeden Morgen anspitzte.

Heckmann gehört noch zu der Schülergeneration, die zu 90 Prozent die schulgeldfreie Volksschule besuchte und sich später durch berufsbegleitende Fortbildung hocharbeiten konnte. „Schon als Lehrling durfte ich manchmal den Meister vertreten. Und nach der Lehre habe ich in Abendkursen die Technikerschule besucht und selbst meinen Meister gemacht“, berichtet der vierfache Familienvater nicht ohne Stolz.

Als Angehöriger des Jahrgangs 1923 wuchs Heckmann während der NS-Zeit auf und musste nach der Volksschule bei einem Bauern in Menden das staatlich verordnete Landjahr absolvieren. „Damals habe ich mit Pferd und Pflug die Ackerfurchen gezogen und bin oft mit Pferd und Wagen von Menden nach Styrum gefahren oder auch mit dem Pferd dorthin geritten“, berichtet Heckmann aus einer anderen Zeit.

Die NS-Ideologie, so sagt er, begegnete ihm nicht in der Schule, wo er einen jüdischen Klassenkameraden hatte, dessen Eltern einen Schrotthandel betrieben, sondern zum Beispiel am 1. Mai. Heckmann: „Dann marschierten auf dem Styrumer Marktplatz eine Militärkompanie und die Hitlerjugend auf und der Ortsgruppenleiter der NSDAP hielt eine Rede.“ Im November 1938 sah er die Oberhausener Synagoge brennen. Vom Brand der Mülheimer Synagoge am Viktoriaplatz hörte er nur. 1938 wurde er in der Evangelischen Kirche an der Kaiser-Wilhelm-Straße von Pfarrer Karl Falkenroth konfirmiert, der zur regimekritischen Bekennenden Kirche gehörte und zwischen 1932 und 1963 in der Gemeinde wirkte.

Die Folgen der NS-Ideologie bekam Heckmann am eignen Leib zu spüren, als er im Kriegsjahr 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Aufgrund seiner technischen Fähigkeiten hatte er Glück im Unglück, weil er als Techniker in einem Luftlandegeschwader eingesetzt wurde. Dort arbeitete er mit seinen Kameraden unter anderem an der JU87 und an einem Lastensegler, mit dem die Wehrmacht 1943 den entmachteten und inhaftierten italienischen Diktator Mussolini befreite.

Das Kriegsende überlebte Heckmann als amerikanischer Kriegsgefangener in Österreich. Im Juli 1945 konnte er nach Styrum zurückkehren und seinen Eltern bei der Reparatur des kriegsbeschädigten Hauses an der Kaiser-Wilhelm-Straße helfen. „An der Oberhausener Straße ist damals viel kaputt gewesen. Die Trümmer wurden mit Pferdefuhrwerken, Handkarren, aber auch auf den Straßenbahnschienen mit von E-Loks gezogenen Loren abtransportiert“, erinnert sich Heckmann. Dankbar ist er dafür, „dass wir keinen Hunger leiden mussten, weil wir einen Garten hatten, in dem wir als Selbstversorger anbauen konnten, was wir zum Überleben brauchten.“ Seinen Arbeitsplatz bei Ernst Haage erreichte er damals, wie viele Kollegen, mit der Straßenbahn. Die Fahrt von Styrum in die Stadt kostete 20 Pfennige. „Die Fahrgäste saßen sich auf langen Holzbänken gegenüber. Und in jedem Wagon fuhr ein uniformierter Schaffner mit, der mit einer Klingel dem Fahrer erst dann das Startsignal gab, wenn er allen Fahrgästen einen von ihm abgeknipsten Fahrschein verkauft, hatte“, berichtet Heckmann. Sein Wirtschaftswunder erlebte Fritz Heckmann, als er von 1955 bis 1957 mit seinem Schwiegervater an der Blumenstraße ein Haus bauen konnte, in dem er bis heute lebt.


Mülheimer Presse

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wo die Kumpel zuhause waren

  Der Mülheimer Bergbau ist Geschichte. 1966 machte mit Rosen Blumen gelle die letzte Zeche dicht Punkt Mülheim war damals die erste Bergbau...