Warum schreibt eine junge Mülheimerin ein Buch über die Mülheimer Stadtverwaltung im Nationalsozialismus und warum lohnt sich dessen Lektüre? Ein Gespräch mit der Autorin und Verwaltungsmitarbeiterin Kyra Sontacki.
Wie kamen Sie zum Thema Ihres jetzt im Tectum-Verlag erschienen und für 26 Euro im Handel erhältlichen Buches?
Sontacki: Während meines Studiums habe ich im Rahmen Im Rahmen des Projekts „Spurensuche – die Stadtverwaltung Düsseldorf im Nationalsozialismus“ Personalakten aus der Zeit des Nationalsozialismus ausgewertet. Das hat mich für das Thema Stadtverwaltung im Nationalsozialismus sensibilisiert und interessiert. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, meine Bachelorarbeit über die Stadtverwaltung im Mülheim des Nationalsozialismus zu schreiben. Der betreuende Professor Dr. Stefan Piasecki ermutigte mich anschließend, die Arbeit zu veröffentlichen und knüpfte Kontakte zum Verlag.
Auf welche Quellen konnten Sie zurückgreifen?
Sontacki: Mit Hilfe der Mitarbeiter des Stadtarchivs an der Von-Graefe-Straße konnte ich Personal,- Entnazifizierungs,- und Amtsakten auswerten. Außerdem habe ich ein Zeitzeugeninterview mit dem ehemaligen Haupt- und Personalamtsleiter Kurt Wickrath geführt, der 1940 in den städtischen Verwaltungsdienst eingetreten ist.
Zu welchen Erkenntnissen haben Ihre Recherchen geführt?
Sontacki: Ich habe unter anderem feststellen können, dass die Nationalsozialisten gezielt Parteigenossen in Amt und Würden gebracht haben, auch wenn diese keinerlei Verwaltungserfahrungen mitbrachten und ihre Arbeit deshalb nur unzureichend ausführen konnten. So wurde der Reichsbahninspektor Wilhelm Maerz 1933 Oberbürgermeister und der erwerbslose Alfred Freter nach einer Kurzausbildung zum Brandingenieur 1934 Chef der Mülheimer Feuerwehr, Beide waren bereits vor 1933 in die NSDAP eingetreten.
Welche Folgen hatte diese parteipolitische Ämterbesetzung?
Sontacki: Der mit der Haushaltssanierung überforderte Oberbürgermeister Maerz musste 1936 sein Amt als Oberbürgermeister an den ausgewiesenen Verwaltungsfachmann Edwin Hasenjaeger abgeben, der sich bereits in Stolp und Rheydt als Oberbürgermeister bewährt hatte. Er sanierte die Finanzen der Stadt, wurde aber 1937 gezwungen Mitglied der NSDAP zu werden. Freters Mangel an Qualifikation zeigte sich laut Aussagen seiner Mitarbeiter beispielsweise an oft unsinnigen Befehlen während der Löscheinsätze.
Wie erging es Gegnern des NS-Regimes?
Sontacki: Sie wurden in der Regel aus dem Dienst entfernt. So wurden dem Oberbürgermeister Alfred Schmidt und Stadtbaurat Artur Brocke 1933 finanzielle Unregelmäßigkeiten angedichtet. Der Amtmann Peter Dreis wurde gegen Kriegsende inhaftiert, misshandelt und starb in der Haft, nachdem er alliierte Rundfunksender gehört hatte. Die jüdische Lehrerin Elfriede Löwenthal wurde 1933 als Volksschullehrerin an der Mellinghofer Straße entlassen. Sie durfte nur noch an jüdischen Schulen unterrichten, ehe sie 1942 zunächst nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Der Kreisleiter der NSDAP Karl Camphausen und Oberbürgermeister Wilhelm Maerz erstellten nach 1933 schwarze Listen von Verwaltungsmitarbeitern, die aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden sollten, weil sie zum Beispiel Juden oder Zeugen Jehovas waren oder weil sie vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten der SPD oder der KPD angehört hatten.
Was wurde aus den nationalsozialistischen Verwaltungsspitzen?
Sontacki: Der 1936 entlassene Oberbürgermeister Wilhelm Maerz kehrte 1937 in den Dienst der Reichsbahn zurück und starb 1945 in Dresden. Der ehemalige Feuerwehrchef Alfred Freter, der während der Reichspogromnacht im November 1938 die Synagoge am damaligen Viktoriaplatz hatte niederbrennen lassen, kam nach Kriegsende in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde aus seinem Beamtenverhältnis entlassen. Er arbeitete später bei einer privaten Werksfeuerwehr und stritt sich mit der Stadt vor Gericht um finanzielle Ansprüche. Die Prozesse zogen sich bis 1963 hin. Freter musste schließlich sämtliche Prozesskosten tragen und durfte keine Ansprüche mehr gegenüber der Stadt geltend machen, dafür wurde jedoch von der weiteren Strafverfolgung des Synagogenbrands abgesehen. Oberbürgermeister Hasenjäger wurde 1945 von den Alliierten entlassen und nach seiner Entnazifizierung wieder eingesetzt, ehe er 1946 unter dem politischen Druck von KPD und SPD zurücktreten und in den Ruhestand gehen musste.
Was können wir aus Ihrem Buch lernen?
Sontacki: Dass wir als Bürgerinnen und Bürger wachsam sein sollten gegenüber kleinen und schleichenden Änderungen in unserem Handeln und der Gesellschaft an sich. Wertschätzung und der Kontakt auf Augenhöhe sind im Umgang miteinander enorm wichtig und es gilt zu verhindern, dass Menschen und Gruppen in unserer Stadtgesellschaft durch eine strukturelle Benachteiligung sozial ausgeschlossen und abgehängt werden.
Zur Person:
Die 26-jährige Mülheimerin Kyra Sontacki hat nach ihrem Abitur an der Luisenschule (2013) bei der Stadtverwaltung Düsseldorf eine Ausbildung für den Mittleren Dienst abgeschlossen. Nach ihrem Wechsel zur Mülheimer Stadtverwaltung, studierte sie ab 2016 an der Fachhochschule für Polizei und Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen. Ihr rechts,- wirtschafts- und verwaltungswissenschaftliches Studium schloss sie 2019 mit einem Bachelor of Laws ab. Ihre Bachelorarbeit wurde mit 1,0 bewertet. Heute arbeitet sie im Sozialamt der Stadt Mülheim im Fachbereich für besondere Wohnformen.
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