Zu Hause bei den Eltern oder im Heim. Das war früher die
Wohnalternative für Menschen mit geistiger Behinderung. „Matthias und ich
wollten etwas anderes, ein Leben, so normal und so selbstbestimmt wie möglich“,
erinnert sich die ehrenamtliche Vorsitzende der Lebenshilfe für Menschen mit
geistiger Behinderung, Ulrike Stadelhoff, an das Jahr 2006. Damals überlegte
sie zusammen mit ihrem geistig behinderten Sohn Matthias, wie und wo er in
Zukunft wohnen wollte und sollte. Schon während seiner Zeit in der Förderschule
an der Rembergstraße hatten der heute 29-jährige Matthias und seiene ebenfalls
geistig behinderten Schulfreunde Christoph Sachse und Kerstin Kübel die Idee,
später in einer Wohngemeinschaft zusammenleben zu wollen.
Schon bei Klassenfahrten und Sommerfreizeiten der
Lebenshilfe hatten sie das ausprobiert und für gut befunden. Aus der Idee wurde
Wirklichkeit, weil ihre Eltern genau so wie Matthias und Ulrike Stadelhoff
dachten. „Das war viel Arbeit, die uns aber auch bis heute miteinander
verbindet“, erinnert sich Ulrike Stadelhoff an die Zeit, als die Eltern mit
Unterstützung der Lebenshilfe erst mal ein geeignetes Wohnquartier finden
mussten. Als es mit einem Reihenhaus an der Meidericher Straße in Styrum
gefunden worden war, musste über mehrere Wochen kräftig angefasst werden, um
Haus und Garten bewohnbar zu machen. Am 1. Oktober 2006 war es so weit.
Matthias, Christoph und Kerstin konnten in ihr neues Zuhause einziehen. Später
kam dann mit Nicole Clemens eine vierte Bewohnerin in die neue WG der Lebenshilfe.
Wer die Viererbande, so nennen sie sich selbst, besucht,
betritt ein ganz normal eingerichtetes Reihenhaus. Im Keller findet man eine
Waschküche, einen Vorratsraum und einen Partykeller. Im Erdgeschoss bilden die
Küche mit einer Durchreiche zum Wohn- und Esszimmer eine großzügige und
gemütliche Raumeinheit. Von dort aus tritt man auf eine kleine Terrasse mit
einem ebenfalls kleinen Garten. „Die Blumen hier gießen die Bewohner selbst.
Auch beim Waschen, Putzen, Kochen oder Gemüseschnibbeln hilft jeder nach seinen
Möglichkeiten mit. Denn Selbstständigkeit ist hier das A und O“, erzählt
Heilerziehungspfleger Thomas Weiser. Er ist einer von vier Betreuern, die dafür
sorgen, dass die geistig behinderten Bewohner der WG im Haus an der Meidericher
Straße rund um die Uhr eine Alltagsassistenz an ihrer Seite haben. Obwohl
Weiser auch die Arbeit in größeren Wohngruppen kennt, möchte er die familiäre
Atmosphäre in der Lebenshilfe-WG nicht mehr missen: „Wenn die Bewohner
zufrieden sind, bin ich auch zufrieden“, lautet sein Arbeitscredo.
Donnerstags und freitags kaufen dieb Bewohner und ein
Betreuer gemeinsam ein. Und am Sonntag plant man die gemeinsamen und
individuellen Aktivitäten der kommenden Woche. Mal besucht man ein Fest, ein
Fußballspiel, ein Rockkonzert, eine integrative Disco oder man geht gemeinsam
ins Kino. In dieser Woche steht unter anderem der Besuch eines
Basketballturniers auf dem Programm, an dem Nicole, von ihren Mitbewohnern
angefeuert, selbst teilnehmen wird.
Nicole und Christoph gewähren dem Besucher von der NRZ
Einblick in ihre Zimmer im zweiten Stock. Im Treppenhaus geht es an
Urlaubsfotos vorbei. Zuletzt war die WG auf Malloraca. Auch Hamburg und Holland
wurde schon vereist. Stolz präsentiert Nicole ihre schickes Klappbett, das sie
aus einer großen Schrankwand holt und ihren Talker. In das kleine Gerät kann
man Sätze eintippen und je nach Bedarf über ein Display anzeigen oder mit eine
elektronischen Stimme aussprechen. Das hilft der 29-Jährigen, die unter einer
Redeflussstörung leidet, bei der Kommunikation. Auch Christoph, dessen etwa 15
Quadratmeter großes und mit Bett, Schrank und Sesseln eingerichtetes Zimmer
seine Leidenschaft für Puzzle und Fußball verrät, spricht nur selten und wenn,
dann auch nur einzelne Worte oder Sätze. Über seinem Bett hängen selbst gemalte
Bilder und einige Familienfotos.
Zurück am Esstisch im Erdgeschoss, verraten die zwischen 27-
und 29 Jahre jungen Bewohner dem Zeitungsmann, dass bei ihnen nicht nur Pommes,
Pizza und Schnitzel auf den Tisch kommen, sondern dass sie alle echte Obst- und
Gemüsefans sind. Nur Nüsse kommen nicht auf den Tisch. Denn auf die reagiert
Kerstin allergisch.
Während die Bewohner ihr Frühstück und ihr Abendessen mit
Hilfe ihres Betreuers, der sein Schlaf- und Arbeitszimmer ganz oben unter dem
Dach hat, zubereiten, essen sie mittags in der Kantine ihres gemeinsamen
Arbeitgebers, den beschützenden Werkstätten der Theodor-Fliedner-Stiftung
Christoph arbeitet dort in der Küche und Nicole in der Elektrowerkstatt.
Matthias, der sich sehr geschickt mit einer Buchstabentafel verständigen kann
und Kerstin, die sich mit Lauten und Gebärden ausdrückt, werden im Betreuungs-
und Förderbereich beschäftigt. Ihr Arbeitstag beginnt jeweils um 7.30 Uhr. Um
15.30 Uhr ist Feierabend. Dann geht es nach Hause oder auch zu einer Sport-
oder Freizeitgruppe.
Ehe Matthias das Pressegespräch mit der Feststellung: „Jetzt
habe ich aber Hunger beendet“ und nach einem kurzen Blick auf den
Arbeitsverteilungsplan in der Küche das große Tischdecken beginnt, erzählen die
Bewohner dem Pressemann noch, dass sie abends gerne Karten, Memory oder mit
ihrer gemeinsamen Playstation spielen. Und würde einer der Viererbande
vielleicht doch lieber wieder zu Hause wohnen? Christoph und Matthias bringen
es unter dem zustimmenden Gelächter ihrer Mitbewohnerinnen auf den Punkt:
„Nein, danke. Hier geht es uns doch gut, auch wenn wir hier mehr arbeiten
müssen, als zu Hause.“
Zahlen und Fakten
Folgt man den Angaben des Gesundheitsamtes und des
statistischen Landesamtes IT NRW, so leben und wohnen rund 17 200 schwerbehinderte
Menschen in Mülheim. Das sind etwas mehr als zehn Prozent der Stadtbevölkerung.
Rund 2300 von ihnen haben eine geistige oder seelische
Behinderung. Doch, dieses Handicap bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auf
ein weitgehend selbstständiges und selbstbestimmtes Leben verzichten müssen.
Wie das funktionieren kann, zeigt der Besuch in der Lebenshilfe-WG an der
Meidericher Straße in Styrum.
Da ihre vier Bewohner alle eine Pflegestufe haben, wird ihr
gemeinsames Wohnen nicht nur über ein persönliches Budget des
Landschaftsverbandes, sondern auch durch Leistungen aus der Pflegeversicherung
finanziert. Würden sie, wie 34 andere Menschen mit geistiger Behinderung in
einer der drei Wohngruppen der 1997 eingerichteten Lebenhilfe-Wohnstätte am
Springweg leben, müsste der zu 90 Prozent von seinen Mitglieds-Gemeinden und zu
zehn Prozent vom Land NRW finanzierte Landschaftsverband die Kosten ihrer
Unterbringung alleine tragen. In der Wohnstätte kümmern sich 25 qualifizierte
Mitarbeiter um die Betreuung der Bewohner.
Je nach Hilfebedarf liegen die persönlichen Budgets
WG-Bewohner pro Monat zwischen 2000 und 3500 Euro. Abhängig von der jeweiligen
Pflegestufe kommen pro Monat und Bewohner zwischen 468 und 1612 Euro hinzu.
Mit jeweils rund 50 Euro finanziert der Landschaftsverband
die Fachleistungsstunden, die die als Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder
Heilerziehungspfleger qualifizierten Betreuer der Lebenshilfe leisten, um
stadtweit 40 Menschen mit geistiger Behinderung zu betreuen, die selbstständig
in einer Wohnung leben. Deren Miete wird durch das Sozialamt finanziert.
Hierbei handelt es sich aber um vergleichsweise selbstständige und
leistungsfähige Klienten, die einen Betreuungsbedarf haben, der sich zwischen
einer und elf Stunden pro Woche bewegt.
In einer mietfreien SWB-Wohnung an der Hingbergstraße
betreibt die 1963 gegründete Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung
und die 1983 eröffnete Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung an
der Rembergstraße seit 2008 eine sogenannte Probewohnung, in der
Remberg-Schüler jeweils für vier Wochen unter qualifizierter Anleitung lernen
können, was man können und worauf man achten muss, wenn man selbstständig
wohnen will.
Weitere Informationen zum Thema gibt es bei der Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung unter: www.lebenshilfe-muelheim.de im
Internet oder telefonisch unter der Rufnummer
0208-40 99 58 0.
Dieser Text erschien am 19. Mai 2015 in der Neuen Ruhr Zeitung
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