Sonntag, 21. Juni 2015

Leben und Wohnen so normal wie möglich: Ein Besuch bei der "Viererbande" in einer WG der Lebenshilfe


Zu Hause bei den Eltern oder im Heim. Das war früher die Wohnalternative für Menschen mit geistiger Behinderung. „Matthias und ich wollten etwas anderes, ein Leben, so normal und so selbstbestimmt wie möglich“, erinnert sich die ehrenamtliche Vorsitzende der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Ulrike Stadelhoff, an das Jahr 2006. Damals überlegte sie zusammen mit ihrem geistig behinderten Sohn Matthias, wie und wo er in Zukunft wohnen wollte und sollte. Schon während seiner Zeit in der Förderschule an der Rembergstraße hatten der heute 29-jährige Matthias und seiene ebenfalls geistig behinderten Schulfreunde Christoph Sachse und Kerstin Kübel die Idee, später in einer Wohngemeinschaft zusammenleben zu wollen.

Schon bei Klassenfahrten und Sommerfreizeiten der Lebenshilfe hatten sie das ausprobiert und für gut befunden. Aus der Idee wurde Wirklichkeit, weil ihre Eltern genau so wie Matthias und Ulrike Stadelhoff dachten. „Das war viel Arbeit, die uns aber auch bis heute miteinander verbindet“, erinnert sich Ulrike Stadelhoff an die Zeit, als die Eltern mit Unterstützung der Lebenshilfe erst mal ein geeignetes Wohnquartier finden mussten. Als es mit einem Reihenhaus an der Meidericher Straße in Styrum gefunden worden war, musste über mehrere Wochen kräftig angefasst werden, um Haus und Garten bewohnbar zu machen. Am 1. Oktober 2006 war es so weit. Matthias, Christoph und Kerstin konnten in ihr neues Zuhause einziehen. Später kam dann mit Nicole Clemens eine vierte Bewohnerin in die neue WG der Lebenshilfe.

Wer die Viererbande, so nennen sie sich selbst, besucht, betritt ein ganz normal eingerichtetes Reihenhaus. Im Keller findet man eine Waschküche, einen Vorratsraum und einen Partykeller. Im Erdgeschoss bilden die Küche mit einer Durchreiche zum Wohn- und Esszimmer eine großzügige und gemütliche Raumeinheit. Von dort aus tritt man auf eine kleine Terrasse mit einem ebenfalls kleinen Garten. „Die Blumen hier gießen die Bewohner selbst. Auch beim Waschen, Putzen, Kochen oder Gemüseschnibbeln hilft jeder nach seinen Möglichkeiten mit. Denn Selbstständigkeit ist hier das A und O“, erzählt Heilerziehungspfleger Thomas Weiser. Er ist einer von vier Betreuern, die dafür sorgen, dass die geistig behinderten Bewohner der WG im Haus an der Meidericher Straße rund um die Uhr eine Alltagsassistenz an ihrer Seite haben. Obwohl Weiser auch die Arbeit in größeren Wohngruppen kennt, möchte er die familiäre Atmosphäre in der Lebenshilfe-WG nicht mehr missen: „Wenn die Bewohner zufrieden sind, bin ich auch zufrieden“, lautet sein Arbeitscredo.

Donnerstags und freitags kaufen dieb Bewohner und ein Betreuer gemeinsam ein. Und am Sonntag plant man die gemeinsamen und individuellen Aktivitäten der kommenden Woche. Mal besucht man ein Fest, ein Fußballspiel, ein Rockkonzert, eine integrative Disco oder man geht gemeinsam ins Kino. In dieser Woche steht unter anderem der Besuch eines Basketballturniers auf dem Programm, an dem Nicole, von ihren Mitbewohnern angefeuert, selbst teilnehmen wird.

Nicole und Christoph gewähren dem Besucher von der NRZ Einblick in ihre Zimmer im zweiten Stock. Im Treppenhaus geht es an Urlaubsfotos vorbei. Zuletzt war die WG auf Malloraca. Auch Hamburg und Holland wurde schon vereist. Stolz präsentiert Nicole ihre schickes Klappbett, das sie aus einer großen Schrankwand holt und ihren Talker. In das kleine Gerät kann man Sätze eintippen und je nach Bedarf über ein Display anzeigen oder mit eine elektronischen Stimme aussprechen. Das hilft der 29-Jährigen, die unter einer Redeflussstörung leidet, bei der Kommunikation. Auch Christoph, dessen etwa 15 Quadratmeter großes und mit Bett, Schrank und Sesseln eingerichtetes Zimmer seine Leidenschaft für Puzzle und Fußball verrät, spricht nur selten und wenn, dann auch nur einzelne Worte oder Sätze. Über seinem Bett hängen selbst gemalte Bilder und einige Familienfotos.

Zurück am Esstisch im Erdgeschoss, verraten die zwischen 27- und 29 Jahre jungen Bewohner dem Zeitungsmann, dass bei ihnen nicht nur Pommes, Pizza und Schnitzel auf den Tisch kommen, sondern dass sie alle echte Obst- und Gemüsefans sind. Nur Nüsse kommen nicht auf den Tisch. Denn auf die reagiert Kerstin allergisch.

Während die Bewohner ihr Frühstück und ihr Abendessen mit Hilfe ihres Betreuers, der sein Schlaf- und Arbeitszimmer ganz oben unter dem Dach hat, zubereiten, essen sie mittags in der Kantine ihres gemeinsamen Arbeitgebers, den beschützenden Werkstätten der Theodor-Fliedner-Stiftung Christoph arbeitet dort in der Küche und Nicole in der Elektrowerkstatt. Matthias, der sich sehr geschickt mit einer Buchstabentafel verständigen kann und Kerstin, die sich mit Lauten und Gebärden ausdrückt, werden im Betreuungs- und Förderbereich beschäftigt. Ihr Arbeitstag beginnt jeweils um 7.30 Uhr. Um 15.30 Uhr ist Feierabend. Dann geht es nach Hause oder auch zu einer Sport- oder Freizeitgruppe.

Ehe Matthias das Pressegespräch mit der Feststellung: „Jetzt habe ich aber Hunger beendet“ und nach einem kurzen Blick auf den Arbeitsverteilungsplan in der Küche das große Tischdecken beginnt, erzählen die Bewohner dem Pressemann noch, dass sie abends gerne Karten, Memory oder mit ihrer gemeinsamen Playstation spielen. Und würde einer der Viererbande vielleicht doch lieber wieder zu Hause wohnen? Christoph und Matthias bringen es unter dem zustimmenden Gelächter ihrer Mitbewohnerinnen auf den Punkt: „Nein, danke. Hier geht es uns doch gut, auch wenn wir hier mehr arbeiten müssen, als zu Hause.“

Zahlen und Fakten


Folgt man den Angaben des Gesundheitsamtes und des statistischen Landesamtes IT NRW, so leben und wohnen rund 17 200 schwerbehinderte Menschen in Mülheim. Das sind etwas mehr als zehn Prozent der Stadtbevölkerung.

Rund 2300 von ihnen haben eine geistige oder seelische Behinderung. Doch, dieses Handicap bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auf ein weitgehend selbstständiges und selbstbestimmtes Leben verzichten müssen. Wie das funktionieren kann, zeigt der Besuch in der Lebenshilfe-WG an der Meidericher Straße in Styrum.

Da ihre vier Bewohner alle eine Pflegestufe haben, wird ihr gemeinsames Wohnen nicht nur über ein persönliches Budget des Landschaftsverbandes, sondern auch durch Leistungen aus der Pflegeversicherung finanziert. Würden sie, wie 34 andere Menschen mit geistiger Behinderung in einer der drei Wohngruppen der 1997 eingerichteten Lebenhilfe-Wohnstätte am Springweg leben, müsste der zu 90 Prozent von seinen Mitglieds-Gemeinden und zu zehn Prozent vom Land NRW finanzierte Landschaftsverband die Kosten ihrer Unterbringung alleine tragen. In der Wohnstätte kümmern sich 25 qualifizierte Mitarbeiter um die Betreuung der Bewohner.

Je nach Hilfebedarf liegen die persönlichen Budgets WG-Bewohner pro Monat zwischen 2000 und 3500 Euro. Abhängig von der jeweiligen Pflegestufe kommen pro Monat und Bewohner zwischen 468 und 1612 Euro hinzu.

Mit jeweils rund 50 Euro finanziert der Landschaftsverband die Fachleistungsstunden, die die als Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Heilerziehungspfleger qualifizierten Betreuer der Lebenshilfe leisten, um stadtweit 40 Menschen mit geistiger Behinderung zu betreuen, die selbstständig in einer Wohnung leben. Deren Miete wird durch das Sozialamt finanziert. Hierbei handelt es sich aber um vergleichsweise selbstständige und leistungsfähige Klienten, die einen Betreuungsbedarf haben, der sich zwischen einer und elf Stunden pro Woche bewegt.

In einer mietfreien SWB-Wohnung an der Hingbergstraße betreibt die 1963 gegründete Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung und die 1983 eröffnete Förderschule für Menschen mit geistiger Behinderung an der Rembergstraße seit 2008 eine sogenannte Probewohnung, in der Remberg-Schüler jeweils für vier Wochen unter qualifizierter Anleitung lernen können, was man können und worauf man achten muss, wenn man selbstständig wohnen will.

Weitere Informationen zum Thema gibt es bei der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung unter: www.lebenshilfe-muelheim.de im Internet oder telefonisch unter der Rufnummer
0208-40 99 58 0.
 
Dieser Text erschien am 19. Mai 2015 in der Neuen Ruhr Zeitung

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