Als Bibliothekar reicht es nicht, nur Bücher zu lieben und sich ansonsten hinter seinem Schreibtisch zu vergraben. Man muss auch ein bisschen extrovertiert sein. Denn wir machen das ja hier nicht für die Bücher oder für uns selbst, sondern für die Menschen, die zu uns kommen.“ So beschreibt Bibliothekar Wolfgang Jordan sein Berufscredo. Der 64-Jährige, der inzwischen stellvertretender Leiter der Stadtbücherei ist, muss es wissen. Seit 37 Jahren kennen die Nutzer der Stadtbibliothek den gebürtigen Berliner als den freundlichen Mann von der zentralen Information, obwohl das nur ein Teil seiner Arbeit ist.
Nicht so freundlich ist er zu Bibliothekskunden, die sich den Bücherregalen mit Döner und Hamburgern nähern, mit dem Handy telefonieren und so tun, als seien die anderen Bibliotheksgäste gar nicht da oder an den öffentlichen Internetarbeitsplätzen laut vor sich hin schimpfen, weil die Filtersoftware der Stadtbücherei den Zugang zu bestimmten Internetseiten blockiert. Die liebsten Büchereibesucher sind ihm dagegen die, die mit einer ganz bestimmten Passion zu ihm kommen. Da ist zum Beispiel der Mann, der immer alles über Indianerstämme in Nordamerika wissen möchte. Dann nehmen sich Bibliothekskunde und Bibliothekar Zeit für die Literaturrecherche und die eine oder andere Fachsimpelei, „vor allem, wenn der Mann seine Frau zu Hause gelassen hat.“
Die Faszination für den amerikanischen Westen kann Jordan nachvollziehen. Seit er 1989 mit seiner Frau und Berufskollegin Barbara dort zum ersten Mal war, hat ihn „die Weite des Landes nicht mehr losgelassen.“ Einen Sonnenuntergang auf den Colorado-Plateau in Utah zu erleben ist für ihn, „wie ein Gottesdienst.“ Schon lange, bevor er den Westen der USA als Tourist bereiste, entdeckte er ihn als jugendlicher Leser „durch die gigantische Erzählkunst Karl Mays.“
Auch wenn der Bibliothekar, der früher für die Literaturrecherchen dicke Bibliografien wälzen musste, mit Blick auf seinen Computerbildschirm manchmal das Gefühl hat, „dass wir uns heute nur noch durchs Leben googlen“, möchte er auch der jungen Generation, die in ein digitales Informationszeitalter hineinwächst, weiterhin das für ihn sinnliche Erlebnis gönnen, mit gedruckten Büchern ein Stück von der Welt zu entdecken.
Deshalb findet er es auch gut, dass Kinder, die sich in der Stadtbücherei anmelden, nur einen einmaligen Beitrag von drei Euro bezahlen müssen, „um die Hürden auf dem ersten Weg zur Bibliothek gering zu halten.“ Und deshalb bedauert er es auch, dass der normale Jahresbeitrag für die Nutzung der Stadtbücherei auf 20 Euro angestiegen ist. „Als ich 1978 hier anfing, galt noch der Grundsatz: Die Bibliothek muss für alle kostenlos nutzbar sein“, erinnert sich Jordan. Damals gehörten Bücher, Gesellschaftsspiele, Zeitungen und Zeitschriften, Langspielplatten und Musikkassetten zum Bestand der Bibliothek. Von Manga-Comics, Konsolenspielen, Musik- und Film-DVDs oder der Online-Ausleihe elektronischer Bücher war noch keine Rede. Und statt in Online-Katalogen wurde in Bibliografien oder Zettelkästen recherchiert. „Als wir 2009 mit der Bibliothek vom Rathausmarkt ins neue Medienhaus am Synagogenplatz umzogen, haben wir zwei Drittel unseres alten Magazins ausgemustert oder verkauft, weil vieles, was früher an wissenschaftlicher Literatur zwischen Buchdeckeln oder Zeitschriftenblättern gedruckt wurde, heute online im Internet zu finden ist“, beschreibt Jordan den Wandel im Bibliothekswesen.
Der politisch interessierte Jordan, der über viele Jahre für das sozial- und rechtswissenschaftliche Lektorat der Stadtbücherei verantwortlich war, bedauert es sehr, „dass die Nachfragen nach wissenschaftlicher Literatur in den letzten Jahren stark nachgelassen hat.“ An diesem Trend ändern auch die Schüler und Studenten nichts, die die Stadtbücherei gerne als Arbeitsplatz nutzen und Jordans Recherchehilfen für ihre Seminararbeiten zu schätzen wissen. Kriminal- und Fantasy-Romane, Kinder- und Jugendliteratur, Ratgeber oder Film- und Musik-DVDs quer durch den Garten sind heute die Ausleihfavoriten. „Nicht jedes Buch macht klüger. Es ist auch viel Mist auf dem Markt“, sagt Jordan mit einem Lächeln. Dennoch „geht es uns in Mülheim mit einem jährlichen Ankaufetat von 210 000 Euro noch rosig, wenn man weiß, dass die Bochumer Stadtbibliothek in diesem Jahr gar keinen Etat für die Ankäufe neuer Medien hat.“ Dennoch sieht er auch in Mülheim einen finanziellen Abwärtstrend: „Als ich hier vor 37 Jahren anfing, war unser Ankaufetat noch doppelt so hoch wie heute und die Einkaufspreise für die Medien lag bei etwa der Hälfte des heutigen Niveaus.“
Dieser Text erschien am 6. Juni 2015 in der Neuen Ruhr Zeitung
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