Ich kauf mir was. Kaufen macht so viel Spaß“, sang einst Herbert Grönemeyer. Doch der Spaß am Kaufen könnte künftig immer mehr Menschen vergehen, wenn mehr als ein Drittel der Rentner im dann mehrheitlich „alten“ Mülheim auf eine Grundsicherung im Alter angewiesen sein sollten, weil das Rentenniveau dann auf 43 Prozent des letzten Arbeitseinkommens absinkt.
Schon jetzt hat die Bundesregierung, von der auch die oben genannte Prognose aus dem Jahr 2012 stammt, festgestellt, dass die Rentner in den letzten 14 Jahren 20 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Wenn 2030 immer mehr der heute prekär Beschäftigten, zu prekär lebenden Ruheständlern werden, wird das Thema Altersarmut nicht nur ein soziales, sondern auch ein wirtschaftliches Thema sein. Denn in Mülheim hängt aktuell fast jeder neunte sozialversicherte Arbeitsplatz und fast jeder fünfte Minijob am Einzelhandel.
„Das wird verheerende Auswirkungen auf den Einzelhandel in den Ortszentren haben, weil dann immer mehr Menschen nach dem Motto: Geiz ist geil unter anderem auch im Internet einkaufen werden“, fürchtet die Saarner Buchhändlerin Brigitta Lange. Für sie gibt es nur ein Mittel, um Altersarmut abzuwenden. „Wir müssen neue und gut bezahlte Arbeitsplätze in die Stadt holen und Wohnquartiere schaffen, in denen man auch gerne alt werden möchte.“
Wirtschaftsförderer Jürgen Schnitzmeier von Mülheim & Business sieht Mülheim angesichts seines sozialen Nord-Süd-Gefälles schon heute als „geteilte Stadt.“ Gerade im Mittelstand erkennt er die zunehmende Angst, „im Alter sozial abzurutschen“, weil das 45-jährige Arbeitsleben mit Vollzeitstelle immer mehr zur Ausnahme und die brüchige Berufsbiografie „ohne Luft für private Altersvorsorge“ immer mehr zur Regel wird. Der Wirtschaftsförderer geht davon aus, dass sich die soziale Schere zwischen den gut situierten und den bedürftigen Rentner weiter öffnen und der Trend zum Discounter und zu Billig-Dienstleistern vom Einkauf über den Friseur bis zum Hotel fortsetzen wird. Wie kann man diesen sozialen und demografischen Wandel meistern? „Wir brauchen ein kluges Quartiersmanagement und mehr ehrenamtliches Engagement“, unterstreicht Schnitzmeier.
Die Einzelhändler Falk Paschmann (25) und Klaus Dieter John (62) erleben in ihren Edeka- und Rewe-Märkten schon heute die soziale Spreizung einer zunehmend älteren Kundschaft, die sich einerseits problemlos auch hochpreisige Produkte leisten kann und andererseits beim Einkauf auf jeden Euro achten muss. Beide Händler stellen sich schon heute mit preiswerten Eigenmarken und Bringservice auf die Bedürfnisse auch jener älteren Kunden mit kleinem Portemonnaie ein. „Das wird ein Spagat und eine Herausforderung, auf die wir uns als Unternehmer einstellen müssen, wenn künftige Rentner-Generationen nicht mehr so viel von der Rente sehen werden, wie das heute noch der Fall ist“, meint Paschmann. Wie er geht auch sein Styrumer Kollege John davon aus, „dass wir unsere Sortimente auf veränderte Nachfrage immer wieder neu ausrichten und flexibler werden müssen.“ Die beiden Einzelhändler versuchen auf ihre Weise der Altersarmut vorzubeugen. Paschmann, der für eine umfassende Rentenversicherung plädiert, in die alle Berufstätigen ohne Einkommensdeckelung einzahlen, bietet seinen Mitarbeitern eine betriebliche Altersvorsorge an. Und John beschäftigt in seinem Markt keine Mini-Jobber, sondern ausschließlich sozialversicherte Arbeitnehmer.
Bettina Heikamp, die das Styrumer Sozialkaufhaus Help leitet, in dem man für kleines Geld und bei Bedarf auch auf Raten einkaufen kann, stellt fest: „Das soziale Spektrum meiner Kunden wird immer breiter, weil der Mittelstand immer kleiner wird.“ Sie macht sich keine Illusionen darüber, dass die zunehmende Altersarmut im vergleichsweise alten Mülheim langfristig massive Auswirkungen auf den Handel haben und ihn zu einer Strategie „preiswert statt Luxus“ zwingen wird. „Schon heute haben wir viele ältere Kunden, die mit ihrer Rente kaum auskommen und deshalb erst mal nur Kartoffeln, Eier, Zwiebeln und Wirsing statt Ananas, Mango oder Weintrauben kaufen“, berichtet Wochenmarkthändler Martin Hellinghaus.
Und was machen Menschen, die gar nicht mehr oder nur noch ganz selten einkaufen können. Sie kommen zur Tafel des Diakoniewerks an der Georgstraße, die schon heute täglich 1000 Kunden kostenfrei versorgt. Ebenso wie das Sozialkaufhaus, ist auch die Tafel auf Spenden angewiesen. „Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, wird noch weiter zunehmen“, glaubt der Betriebsleiter des Diakoniewerkes, Michael Farrenberg. Der 54-Jährige sieht nur einen Ausweg aus der Armutsfalle. „Wenn wir mehr Menschen haben wollen, die ihr Geld in den Wirtschaftskreislauf geben, brauchen wir angemessene Löhne und Arbeit bis zur Rente. Das wird aber nur dann passieren, wenn Unternehmen und Arbeitgeber nachhaltiger handeln und nicht nur den kurzfristigen Profit im Blick haben.“
Dieser Text erschien am 10. Oktober 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung
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