Freitag, 3. Oktober 2014

Flucht in die Freiheit: Von Magdeburg nach Mülheim: Ein Geschichte zum Tag der Deutschen Einheit


Heute leben im Hildegardishaus Flüchtlinge. Vor 25 Jahren war das auch schon so. Damals kamen die Flüchtlinge allerdings nicht aus anderen Ländern, sondern aus Deutschland. Sie kamen aus der DDR, die damals noch existierte, samt Mauer und Schießbefehl.

Im September 1989 kamen auch der damals 22-jährige Dirk Schäfer und sein drei Jahre jüngerer Bruder Andreas nach Mülheim. Sie kamen aus Magdeburg und hatten eine abenteuerliche Flucht hinter sich. „Wir wollten uns nicht mehr einschränken und alles vorschreiben lassen“, beschreibt Schäfer sein wichtigstes Fluchtmotiv.

Er beschreibt sich als unpolitischen, aber freiheitsliebenden Menschen, der sich auch von Widerständen nicht aufhalten lässt, um sein Leben zu leben und voranzukommen. „Eigentlich ging es mir ganz gut in der DDR. Ich hatte ein Ausbildung als Hotelfachmann gemacht, verdiente ganz gut, kam durch meinen Beruf auch an Devisen und hatte sogar ein eigenes Auto“, erinnert sich Schäfer. Sogar reisen konnte er, wenn auch nicht nach Westen, so doch nach Ungarn, Polen, in die Tschechoslowakei, in die Sowjetunion oder nach Kuba.

Doch damit war es 1987 vorbei, als sein Stiefvater, der die Vereinsgaststätte des 1. FC Magdeburg betrieben hatte, bei der „Republikflucht“ über die Ostsee geschnappt und in Bautzen inhaftiert wurde. Plötzlich wurde Schäfer, der in Magdeburg und Berlin auch schon Erich Honecker bewirtet hatte, von der DDR-Staatssicherheit verhört. „Was haben Sie gewusst? Konnten Sie die Flucht nicht verhindern? Überlegen Sie genau, was Sie machen? Wir haben sie im Auge. Das war wie in einem schlechten Krimi mit umgedrehter Schreibtischlampe“, erinnert sich Schäfer.

Jetzt wuchs in ihm das Gefühl: „Hier bewegt sich nichts mehr. Ich will hier raus.“ Doch es sollten noch einmal zwei Jahre vergehen, bis aus der Idee die Tat wurde. Am 17. September 1989 war es soweit. Über eine Tante hatten sie erfahren, dass der Stiefvater dank seiner australischen Verwandten von der australischen Regierung freigekauft worden und inzwischen in Mülheim gelandet sei. Jetzt kannten die Brüder ihr Ziel. Sie setzten sich in Magdeburg in den Zug und fuhren nach Dresden. Ihr einziges Gepäckstück war eine kleine Gelenktasche mit Devisen, um flüssig zu sein und Grenzer gnädig zu stimmen.

Von Dresden aus schlugen sie sich über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei. Im Taxi fuhren sie zunächst weiter nach Prag und dann im Zug nach Bratislava. Dort begann der schwierigste Teil der Flucht. Mit der Unterhose bekleidet, das Täschchen mit den Devisen in Händen gingen sie in das vielleicht 14 oder 15 Grad kalte Wasser der Donau, um ans ungarische Ufer zu schwimmen. Obwohl das nur einige 100 Meter entfernt war, sollte die Flussüberquerung zu einem lebengefährlichen Manöver werden und insgesamt fünf Stunden dauern. „Denn die Strömung war so stark, das wir uns über weite Strecken nur treiben lassen konnten, die uns etwa zehn Kilometer weit forttrug. Hätten wir versucht, gegen die Strömung zu schwimmen, wir hätten es nicht überlebt,“ist er sich rückblickend sicher. Doch gegen 22 Uhr erreichten sie das rettende Ufer Ungarns. „Fragen Sie mich nicht nach Ortsnamen. Wenn sie auf der Flucht sind, denken Sie an alles, aber nicht an die Namen der Orte, die sie durchqueren.“

Schäfer weiß nur noch, dass sein Bruder und er irgendwann in ihren Unterhosen und mit ihrer Gelenktasche vor einem Gasthaus standen, das geschlossen war, in dem aber noch Licht brannte. Die Gastleute machten ihnen auf. Sie gaben ihnen zu essen und etwas anzuziehen, ohne dafür etwas haben zu wollen. Im Gegenteil: Der Gastwirt bestand darauf, sie zum Bahnhof zu bringen und ihre Fahrkarte zur österreichischen Grenze zu bezahlen.

Obwohl Ungarn damals bereits seine Grenzen zu Österreich geöffnet hatte, wählten die Brüder für den Grenzübertritt den Schutz der Dunkelheit. Kurz nach 1 Uhr erreichten sie erschöpft das österreichische Nickelsdorf. Kurz hinter der Grenze stießen sie auf eine Zeltstation des Roten Kreuzes. Hier wärmten sie sich kurz auf und wurden später von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft nach Wien gebracht, wo sie zwei Tage Gäste der Botschaft waren, bis sie in den Zug nach Münster stiegen. „Ich habe während der Fahrt kein Auge zugemacht, wollte alles sehen, was am Zugfenster vorbeiflog. Vor allem am alten Gevatter Rhein vorbeizufahren, war für mich ein atemberaubendes Glücksgefühl.“

Ihr Zug fuhr damals auch durch Mülheim. Doch die Schäfers durften nicht aussteigen, sondern mussten weiter nach Münster und von dort aus ins Auffanglager Schöppingen, um sich dort offiziell registrieren zu lassen. Erst einen Tag später wurden sie dort von ihrem Stiefvater abgeholt und fuhren mit ihm nach Mülheim.

Als Dirk und Andreas Schäfer am 23. September 1989 Mülheim erreichten, staunte Dirk Schäfer vor allem über die vielen Autos auf den Straßen und eine gastronomische Vielfalt von Pizza bis Döner, die er aus der DDR nicht kannte. „Mir fiel aber auch auf, dass hier viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern lebten und viele mit einem traurigen Gesicht durch die Gegend liefen.“ Er selbst war alles andere als traurig, sondern froh darüber, in der Freiheit angekommen zu sein und voller Tatendrang. Seine 100 Mark Begrüßungsgeld investierte er in Wolldecken und eine Matratze, um in der Wohnung seines Vater am Dickswall schlafen zu können. Der gelernte Hotel- und Gastronomiefachmann ging von einer Gaststätte zur nächsten und schon wenige Tage nach seiner Ankunft in Mülheim fand er seine erste Arbeitsstelle in der Mausefalle. Einen Monat später sollte er in Dümpten seine erste eigene Wohnung beziehen.

„Wir waren erst wie gelähmt und konnten es gar nicht glauben“, erinnert sich Schäfer an 9. November 1989, als er mit seinem Stiefvater und seinem Bruder die Fernsehbilder aus Berlin sah. Die drei stießen mit einem Cognac auf den Fall der Mauer an. Der Mann, der im September 1989 von Magdeburg nach Mülheim geflohen war, sollte sich in der Mausefalle vom Kellner zum Geschäftsführer hocharbeiten, bevor er erst als Gastronomiefachmann und später als selbstständiger Unternehmer mit einem Hausmeisterservice und einem Maklerbüro beruflich zu neuen Ufern aufbrechen sollte. „Ich bin ein unruhiger Geist und muss immer etwas unternehmen“, sagt der 47-Jährige über sich selbst und lacht.

Dieser Text erschien am 23. September 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung

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