Heute stehen unter anderem Bewegungstherapie und Gedächtnistraining auf seinem Programm. „Ich habe elf Grunderkrankungen und war im Juli total platt, nachdem ich meine Frau 16 Jahre lang gepflegt habe“, schildert er seine Krankengeschichte, die er nicht weiter auswalzen möchte.
Damit ist Drensler ein typischer geriatrischer Patient. Die ärztliche Leiterin der geriatrischen Tagesklinik, Arina Skorokhodova, und ihr niedergelassener Kollege Andreas Schöpf haben es mit multimorbiden Patienten zu tun, die altersbedingt durch eine ganze Reihe von Erkrankungen in ihrer Selbstständigkeit und Bewegungsfähigkeit eingeschränkt sind. Die Bandbreite reicht von Demenz und Schlaganfall über Depression und Parkinson bis zu Durchblutungsstörungen, Bluthochdruck, Diabetes oder Arthrose.
Wenn sie es etwa mit einem Patienten zu tun haben, der über Gangstörungen klagt, müssen sie erst einmal klären, ob die eigentliche Ursache dafür in einer Gelenkerkrankung oder in einer Durchblutungsstörung zu finden ist. Schöpf erinnert sich an einen Patienten, der körperlich massiv abbaute und immer wieder über Schwindel und Appetitlosigkeit klagte. Erst nach vielen Gesprächen und Nachforschungen im persönlichen Umfeld stellte sich heraus, dass es sich um psychosomatische Beschwerden handelte, die durch den familiären Streit um die häusliche Pflegesituation entstanden war.
„Gerade bei geriatrischen Patienten darf man sich nicht auf die Diagnose einer einzelnen Erkrankung fixieren, sondern muss den ganzen Menschen mit seiner Lebensgeschichte kennenlernen“, weiß Schöpf, der früher die geriatrische Abteilung des Evangelischen Krankenhauses geleitet hat.
Seine ehemalige Kollegin Skorokhodova weiß wie er aus ihrer Praxis in der Tagesklinik, dass eine zentrale Herausforderung der Geriatrie darin besteht, die unterschiedlichen Medikamente, die mehrfach erkrankte Senioren einnehmen, individuell zu dosieren, zu reduzieren oder auch ganz abzusetzen, um kontraproduktive Wechselwirkungen für Anatomie und Stoffwechsel des alten Menschens zu vermeiden.
„Das ist ein großer Vorteil der Tagesklinik, dass wir die Patienten regelmäßig sehen, und die Ergebnisse der Medikamentengabe und der Therapien kontrollieren können, um sie den aktuellen Bedürfnissen der Patienten anzupassen“, unterstreicht Skorokhodova.
Der leitende Pfleger der Tagesklinik, Christian Wintgen, der die Therapiepläne der Patienten koordiniert, sie auch zu Hause rund um das Thema Hilfsmittel berät oder zu ärztlichen Untersuchungen begleitet, stellt immer wieder fest, „dass es für die Patienten ein riesiger Motivationsschub ist, wenn sie nach den Therapien in der Tagesklinik wieder nach Hause in ihre gewohntes Umfeld zurückkehren können.“
Auch wenn in der Tagesklinik neben Skorokhodova und Wintgen auch Bewegungstherapeuten, Sprachtherapeuten und Krankengymnasten arbeiten, nimmt sich Pfleger Wintgen zwischen Arztgesprächen, Untersuchungen oder Einzel- und Gruppentherapien immer wieder Zeit, für ganz individuelle Trainingseinheiten, die die erreichten Fortschritte der Patienten stabilisieren sollen. Trainiert werden dabei Dinge, die jungen und gesunden Menschen selbstverständlich erscheinen, aber nach einem Schlaganfall oder nach einem Oberschenkelhalsbruch neu gelernt werden müssen. Wie steht man aus einem Sessel auf oder wie räumt man einen Küchenschrank ein und aus? Deshalb werden in der Tagesklinik nicht nur Liegen, Sitzbälle, Sprossenwände oder aus Kunststoffplatten zusammengelegte Huckelstrecken, sondern auch eine Küchenzeile und eine Werkbank als therapeutische Instrumente eingesetzt. „Auch Kochtraining oder Malen und Basteln stehen bei uns auf dem Therapieplan“, betont Wintgen und weist auf eine Tafel hin, auf der jeder Patient seinen persönlichen Tagesablauf ablesen kann. „Die Vielzahl der Therapien, die man hier bekommt, könnte ein Hausarzt mit seinen Helfern gar nicht leisten“, glaubt Patient Günther Drensler. Doch die geriatrische Tagesklinik, die er morgens um neun Uhr betritt und gegen 15.30 Uhr wieder verlässt, um nach Hause gefahren zu werden, hat für ihn eine noch ganz andere therapeutische Wirkung. „Man bekommt sozialen Kontakt und kann sich mit anderen Menschen austauschen“, freut sich Drensler. Nach drei Wochen in der Tagesklinik möchte er „nicht nur besser gehen, sondern auch selbstständiger leben können.“
Weil man diese Selbstständigkeit „am besten im häuslichen Umfeld der Patienten trainieren kann“, machen der niedergelassene Geriater Schöpf und sein Therapeutenteam auch Hausbesuche. Bei denen können dann auch gleich Stolperfallen von der Teppichkante bis zum schlecht beleuchteten Badezimmer aus dem Weg geräumt werden.
Egal wie die ambulante und mit den Hausärzten vernetzte geriatrische Versorgung geleistet wird: In jedem Fall vermeidet oder verkürzt sie die für viele ältere und eingeschränkte Patienten traumatische Erfahrung einer stationären Behandlung.
Zahlen und Fakten
Mülheim gehört zu den ältesten Städten der Republik. Ende 2013 waren, laut Stadtforschung, 6,4 Prozent der insgesamt rund 167?000 Mülheimer älter als 80 Jahre, 11,8 Prozent waren zwischen 70 und 80 Jahre alt und 11,9 waren zwischen 60 und 70 Jahre alt.
In ihrer Bevölkerungsprognose geht die Stadtforschung davon aus, dass die Zahl der Über-80-jährigen Mülheimer bis zum Jahr 2025 um 19,4 Prozent ansteigen wird.
Die Zahl der Geriater , also der Ärzte, die sich mit altersspezifischen Erkrankungen beschäftigen ist sehr überschaubar. Im Evangelischen Krankenhaus gibt es drei und im St. Marien-Hospital, das mit dem Geriatriezentrum Haus Berge in Essen zusammenarbeitet, einen.
Außerdem hat der Neurologe Andreas Schöpf, der über eine Qualifikation als Geriater verfügt, vor 15 Monaten an der Hölterstraße ein Praxiszentrum Neurogeriatrie eröffnet, das geriatrisch veränderte Patienten ambulant betreut. Zudem hat er ein Zentrum für ambulante geriatrische Komplexbehandlung ins Leben gerufen.
In der geriatrischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses, die 2008 eingerichtet wurde, werden zurzeit 1000 Patienten pro Jahr behandelt.
In der Tagesklinik des Evangelischen Krankenhauses, die Anfang September ihren Betrieb aufgenommen hat, gibt es derzeit fünf Behandlungsplätze. Ab 2015 sollen es zehn sein.
Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein gibt es in ihrem Bezirk derzeit nur 19 niedergelassene Geriater.
Dieser Text erschien am 12. September 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung
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