„Wie und warum die Shoa
erinnern?“ Eine schwierige Frage. Eine Tagung in der Wolfsburg stellte sie am
75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Tagungsleiter Jens Oboth
nannte gleich zu Beginn zwei Zahlen, die er selbst als unfassbar beschrieb: 55 Millionen
Menschen verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben. 6 Millionen Menschen wurden
Opfer der Shoa. „Wie kann man dieses unglaubliche Menschheitsverbrechen der
nachwachsenden Generation vermitteln, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben
sein werden“, fragte Oboth.
Der Regisseur Johannes
Kuhn gab eine Antwort mit seinem Film „Der Dachdecker von Birkenau.“ In ihm gab
er den millionenfachen Holocaust-Opfern ein Gesicht, in dem er den 90-jährigen
Mordechai Ciechanower an den Orten seines Martyriums von seinem Leiden und
Überleben in sechs Konzentrationslagern und Ghettos berichten ließ. „Das war
das schlimmste Erlebnis in meinem Leben. Das hat mich zerbrochen“, erinnert
sich Ciechanower im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau, in dem er einst als
Dachdecker arbeiten musste, an den 10. Dezember 1942. Es war der Tag, an dem er
auf der Rampe des Konzentrationslagers von Mutter und Schwester getrennt wurde
und sie nie wiedersehen sollte. Sein Vater und er durchlebten und überlebten
die Hölle des Holocaust und sollten sich nach Kriegsende in einem Camp für „displaced
persons“ wiedersehen.
Nach 100 belastenden und
zugleich beeindruckenden und berührenden Filmminuten, fällt der Beginn der
Diskussion nicht leicht. „Dieser Film wird mich noch lange beschäftigen,“ sagt
eine Tagungsteilnehmerin. „Das Schlimmste war die Erniedrigung der Menschen und
ihr Schwanken zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit“, sagt eine andere. Wer
diesen Film gesehen hat, und das sollte jeder einmal getan haben, weiß, was der
Holocaust war und was er angerichtet hat.
Der im
christlich-jüdischen Dialog aktive Theologe Hans Hermann Henrix und die im
Stiftungsrat der internationalen Jugendbegegnungsstätte des ehemaligen KZs
Auschwitz engagierte Politikwissenschaftlerin Katarina Bader bescheinigen Kuhn:
„Sie haben der Erzählung des Überlebenden, den Platz eingeräumt, der ihm
zukommt und auf jedes Spiel mit Effekten und Emotionen verzichtet.“
Kuhn und Bader sind sich
einig, dass sich die Enkelgeneration im Erinnern an die Shoa leichter tut, als
die Kinder der Tätergeneration, deren Erinnerung an Krieg und Holocaust noch
stärker von Schuldzuweisungen an die eigenen Eltern dominiert werde. Kuhns
Film, der vom Verein Gegen das Vergessen und für Demokratie produziert worden
ist, zeigt es. Die Jugendlichen, denen Mordechai Ciechanower seine Geschichte
erzählt, fragen ihn interessiert und unbefangen. Und er ermutigt sie dazu. „Die
Jugend muss wissen, was passiert ist, damit sich so etwas nicht wiederholt.
Fragen Sie alles, was Sie wissen wollen und haben Sie keine Scham“, sagt er.
Dass der Holocaust-Überlebende mit Elan, aber ohne Verbitterung und
Schuldzuweisung von seinem Leidensweg berichtet, beeindruckt nicht nur Regisseur
Kuhn, der ihn 2005 im ehemaligen KZ-Außenlager Hailfingen-Tailfingen
kennengelernt und 2013 auf seiner Zeitreise zu seinen Leidensstationen
begleitet hat. Auch die Zuschauer sind sichtbar bewegt.
„In Auschwitz ist nicht
das Judentum, sondern das Christentum gestorben“, zitiert Jens Oboth mit Elie
Wiesel einen anderen Holocaust-Überlebenden und stellt damit die
selbstkritische Schuldfrage in Richtung Katholische Kirche. „Dass müssen wir
uns als Christen gesagt sein lassen“, räumt Theologe Henrix ein. Ausgehend von
einem Hirtenwort der deutschen Bischöfe im August 1945 beschreibt er die lange
Entwicklung von der Schuldverdrängung, die den Katholizismus allein als Hort
des Widerstandes sehen wollte bis zum klaren Eingeständnis der eigenen Schuld,
wie sie im November 1975 von den deutschen Bischöfen in ihrer Erklärung „Unsere
Hoffnung“ formuliert worden sei. Henrix erinnert daran, dass es unter den
500.000 aktiven Nazis auch viele getaufte Christen gegeben habe. Er zitiert in
diesem Zusammenhang das Wort des Münsteraner Theologen Johann Baptist Metz:
„Die Katholiken haben während der NS-Zeit mit dem Rücken zum verfolgten
jüdischen Volk einfach weitergelebt.“
Auch Tagungsteilnehmer,
die während der 50er und frühen 60er Jahre zur Schule gegangen sind, erinnern
sich an Lehrer, „die viel gewusst, aber nichts gesagt und kräftig verdrängt
haben.“ Der Theologe Henrix wirbt um Verständnis für diesen frühen
Verdrängungsprozess: „Wir brauchten als Gesellschaft diese Zeit, um ein
erwachsenes Verhältnis zu unserer Geschichte zu bekommen.“ Bis zu der vom
damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 formulierten Einsicht,
„dass der 8. Mai 1945 auch für die Deutschen kein Tag der Niederlage, sondern
ein Tag der Befreiung gewesen ist“, sei es ein weiter Weg gewesen. Filmische
Zeitzeugenberichte, wie ihn jetzt die katholische Akademie in Mülheim zeigte,
sind für Henrix geeignet, den Holocaust auch für die nachfolgende Generation
anschaulich und begreifbar zu machen.
Vor dem Hintergrund ihrer
eigenen Erfahrungen bei der Mitarbeit in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz
und beim Verfassen einer Biografie des Holocaust Überlebenden Jurek Hronowski
(„Jureks Erben“) plädiert Katarina Bader dafür, Raum für die Begegnung
christlicher, jüdischer und islamischer Jugendlicher zu schaffen und auch die
Kinder der Holocaust-Opfer und Überlebenden stärker in Zeitzeugenbefragungen
mit einzubeziehen.
Baders Bilanz: „Die
meisten Jugendlichen halten die Erinnerung an die Shoa und den Krieg für
sinnvoll. Sie haben aber oft den Eindruck, dass man nicht offen und ehrlich
darüber sprechen kann, weil es noch zu viele Tabus gibt. Deshalb müssen wir
selbstkritisch darüber nachdenken, ob die Enkel- und Urenkelgeneration in das
Erinnerungsgebäude einziehen will, das wir ihnen aufgebaut haben.“ (Thomas
Emons)
Johannes Kuhns und Mordechai Ciechanowers
Zeitzeugen-Film „Der Dachdecker von Birkenau wird ab November 2014 als DVD
erhältlich sein. Weitere Informationen gibt es im Internet unter: www.der-dachdecker-von-birkenau.de
Dieser Text erschien am 12. September 2014 im Neuen Ruhrwort
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