40 Jahre lang hat Hans-Werner Nierhaus als Lehrer Schülern der Karl-Ziegler- und der Otto-Pankok-Schule Geschichte beigebracht. Als Ruheständler schreibt der 65-Jährige Geschichte. Nach seinem 2007 im Klartextverlag erschienen Buch über den Zweiten Weltkrieg in Mülheim will er voraussichtlich im Laufe des kommenden Jahres nun auch ein Buch über das lange 19. Jahrhundert vorlegen. In diesem Zusammenhang hat er sich auch mit dem Mülheimer Alltag im Ersten Weltkrieg beschäftigt. Zu Beginn einer kleinen Serie, die mit seiner Hilfe den Mülheimer Alltag im Ersten Weltkrieg beleuchtet, fragte die ihn in der Mülheimer NRZ danach, was wir 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges aus dieser Zäsur der Zeitgeschichte lernen können.
Frage: Warum ist für sie der Erste Weltkrieg noch ein Teil des langen 19. Jahrhunderts?
Antwort: Nierhaus: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war die deutsche Gesellschaft immer noch eine sehr konservative Klassengesellschaft, die von den Werten des 19. Jahrhunderts geprägt war. Das kam unter anderem im preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht zum Ausdruck, das das Stimmengewicht eines Wählers mit seinem Steueraufkommen verband und dafür sorgte, dass bis 1919 kein einziger Sozialdemokrat in den Mülheimer Stadtrat einziehen konnte. Außerdem gab es bis 1919 auch keine Frauen im Stadtrat, sondern nur Ratsherrn, weil Frauen erst 1918 das Wahlrecht erhielten. Also erst nach dem Ersten Weltkrieg gelang in Deutschland der Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft.
Frage: Aus welchen historischen Quellen können Sie schöpfen?
Antwort: Ich war bei meiner Recherche im Stadtarchiv überrascht, als ich feststellen musste, dass es über das gesellschaftliche Leben im 19. Jahrhundert keine zusammenhängende Darstellung gab. Ich habe deshalb viele meiner Erkenntnisse zum Beispiel aus alten Zeitungen, persönlichen Nachlässen, Verwaltungsakten, Briefen und Stadtratsprotokollen zusammengetragen.
Frage: Warum gab es auch in Mülheim 1914 so etwas wie Kriegsbegeisterung?
Antwort: Das hatte wohl damit zu tun, dass die Deutschen damals nur den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 im Kopf hatten. Das war ein kurzer und erfolgreicher Krieg mit vergleichsweise wenigen Opfern gewesen, der den Deutschen die nationale Einigung brachte. Vor diesem Hintergrund konnten sich auch viele Mülheimer 1914 gar nicht vorstellen, was ein moderner Krieg mit all seiner technischen und massenhaften Vernichtungskraft bedeutete und welche Opfer auf sie zukommen sollten.
Frage: Warum überlagert die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg heute das Bewusstsein für die Bedeutung des Ersten Weltkrieges?
Antwort: Der Zweite Weltkrieg hat durch seine Bombenangriffe das Bild unserer Stadt nachhaltig verändert und wesentlich mehr zivile Opfer gefordert als der Erste Weltkrieg. Das Kriegsende 1945 wurde von den Deutschen als einschneidender und die Kriegsniederlage als totaler empfunden, als das im Jahr 1918 der Fall war. 1918 wollten viele Deutschen die Kriegsniederlage ihres Landes nicht wahrhaben. Und letztlich dürfen wir nicht vergessen, dass der politische Aufstieg der Nazis und der Zweite Weltkrieg seine Ursachen nicht zuletzt im Ersten Weltkrieg und seinen politischen und wirtschaftlichen Folgen hatte. Denken Sie an die für Deutschland harten Bedingungen des Versailler Friedensvertrages. Ob Nationalismus, vormilitärische Erziehung oder verpflichtende Arbeitseinsätze auf dem Land. Vieles, was im Ersten Weltkrieg von Bedeutung war, wurde später auch im Nationalsozialismus wieder aufgegriffen.
Frage: Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Lektion, die man aus dem Ersten Weltkrieg ziehen muss?
Antwort: Vor allem die Einsicht darin, dass Krieg kein Mittel der Politik sein kann. Angesichts des Ersten Weltkrieges begreift man erst, wie wertvoll der Frieden und die sicher nicht immer leichte Zusammenarbeit der Staaten in Europa ist. Der europäische Einigungsprozess kann vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen politisch nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Dieser Text erschien am 29. Juli 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung
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