„Das Gebot, den Nächsten zu lieben, wie uns selbst, umfasst auch die Liebe zur Gesamtheit des Volkes, fordert Einschränkungen der eigenen Interessen zugunsten des Gemeinwohls. Gleichwohl erscheint die Entwicklung eines christlichen Sozialismus weniger zweckentsprechend, weil sich ein großer Teil der Menschheit nicht zum christlichen Glauben bekennt. Der Inhalt der christlichen Forderung braucht deshalb nicht geschmälert zu werden. Denn letzten Endes sind die Ziele, die eine christliche Lebensauffassung für die Entwicklung der künftigen Sozial- und Wirtschaftsordnung erstrebt, auch von all jenen zu erstreben, die ohne Voreingenommenheit gegen Glaube und Religion, von der Sorge um die Gesundung des Allgemeinwohles geleitet werden. Es kommt darauf an, zur Gemeinsamkeitsarbeit an der Verwirklichung der Ziele alle Gutwilligen zu vereinen.“
Vieles von dem, was im Kölner Kreis vorgedacht worden war, sollte nach dem Krieg auch mit Hilfe von Überlebenden des Kölner Kreises, wie dem späteren Bundesminister Jakob Kaiser oder dem späteren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, Eingang in das 1949 verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik finden. Man denke an das in der Präambel formulierte Bekenntnis „zur Verantwortung vor Gott und den Menschen“, an die im Artikel 1 verankerte Verpflichtung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt oder an den im Artikel 14 festgeschriebene Grundsatz. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Müller, Groß und Letterhaus arbeiteten ab 1927 im Kölner Ketteler-Haus als Verbands-Präses, als Chefredakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung und als Verbandsekretär zusammen an der Spitze der katholischen Arbeiterbewegung Westdeutschland. Alle drei wurden nicht nur durch ihren Glauben verbunden und getragen. Sie wussten aus ihrer eigenen Biografie, dass Bildung die Voraussetzung für die gesellschaftliche Gleichberechtigung und politische Teilhabe der Arbeiter war. Der in Mülheim aufgewachsene Lehrersohn Müller hatte schon als junger Pfarrer in Mönchengladbach die Bildungsarbeit der katholischen Arbeitervereine vorangetrieben und eine Doktorarbeit über die Geschichte der christlichen Gewerkschaften geschrieben. Der 1898 im Ruhrgebiet geborene Groß und der 1894 in Wuppertal geborene Letterhaus hatten sich durch Fortbildung von Arbeitern zu Arbeiterführern weiterentwickelt.
Müller, Letterhaus und Groß kannten die sozialen Nöte der Industriearbeiterschaft, etwa im Bergbau, in der Stahl- und in der Textilindustrie, aus eigener Anschauung. Früher, als viele andere erkannten sie, dass diese durch die Weltwirtschaftskrise verschärften Nöte und Ungerechtigkeiten den Nazis in die Hände spielten. Vor und nach 1933 warnten sie nicht nur die katholische Arbeiterschaft vor der Gefahr des Nationalsozialismus. Müller nannte Hitler „ein nationales Unglück.“ Letterhaus warnte als Zentrumsabgeordneter des preußischen Landtags und Vizepräsident des Deutschen Katholikentages: „Wenn es diesem Demagogen Hitler einmal gelingen sollte, an der Spitze Deutschlands zu stehen, dann ist der Anfang des Untergangs da und auch ein neuer Krieg. Wir müssen uns dem entgegenstemmen, wo immer es auch sein mag.“ Dieser Erkenntnis folgend lehnte er 1933 das Ermächtigungsgesetz und das Reichskonkordat ab.
Nikolaus Groß hatte als Chefredakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung bereits 1932 kommentiert: „Der Nationalsozialismus stellt weltanschaulich ein wildes Durcheinander aus den verschiedensten Weltanschauungen dar. Politisch ist der Nationalsozialismus Gegner des Volksstaates und der Demokratie und Verfechter des Diktaturgedankens. Deshalb ist der Nationalsozialismus auch das Sammelbecken der politisch Unreifen und Unmündigen geworden.“
Müller, Letterhaus und Groß wussten, worauf sie sich einließen, als sie unter anderem über des Jesuitenpater Alfred Delp Kontakt zu Carl Friedrich Goerdeler, Ludwig Beck und anderen Männern des 20. Juli aufnahmen und ab 1942 im Kölner Kreis Pläne für die Zeit nach Hitler schmiedeten. Generaloberst Beck sollte nach einem Sturz Hitlers Staatsoberhaupt, der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Gordeler Reichskanzler und Letterhaus Minister für Wiederaufbau werden.
Es kam anders. Alle drei wurden nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler verhaftet und gefoltert. Letterhaus und Groß wurden vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee gehängt. Der damals bereits 73-jährige Müller starb noch während der Haft am 12. Oktober 1944 in Berlin-Tegel. "Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen, wie wollen wir dann vor Gott und unserem Volk einmal bestehen?" hatte Nikolaus Groß am Tag vor dem Hitler-Attentat den Paderborner KAB-Präses Caspar Schulte gefragt, als dieser den siebenfachen Familienvater vor der Teilnahme am Widerstand gegen Hitler gewarnt hatte. Und Bernhard Letterhaus hatte seine Motivation zum Widerstand gegen Hitler bereits 1940 so formuliert: „Beruf hat im Kern das Wort Ruf. Zu dem, was ich in der Vergangenheit tat und zu dem, was ich in der Zukunft tun muss, bin ich gerufen. Von wem? Nun, wir Christen bekennen: Von Gott. Ich habe diese Stimme im Weltkrieg in mir gehört und bin ihr gefolgt. Deshalb darf ich auch nicht bedrückt sein, wenn ich durch Täler wandern muss. Nur, wenn ich der Stimme nicht folge, müsste ich mich verlieren.“
Die Frage, was wir heute aus dem Lebensbeispielen der katholischen Widerstandskämpfer Müller, Letterhaus und Groß lernen können, hat der 1934 geborene Diakon Bernhard Groß mit Blick auf seinen am 23. Januar 1945 hingerichteten Vater in einem Interview 2011 einmal so beantwortet: „Wir haben gelernt, dass wir uns nicht verbiegen dürfen, dass wir Gott mehr gehorchen müssen als den Menschen. Positiver Widerstand sozusagen. Wir haben gelernt, was Freiheit, was Menschenwürde ist und dass man sich dort, wo diese verletzt wird, einsetzen muss.“
Dieser Text erschien am 26. Juli 2014 im Neuen Ruhr Wort
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