Montag, 27. Oktober 2025

Kaffeehauspolitik

In Cafes und Gasthäusern wird nicht nur gegessen, sondern auch diskutiert. Bis heute werden hier politische Karrieren geschmiedet. Während der bürgerlichen Revolution dienten die Cafes und Gasthäuser in Frankfurt am Main den Parlamentarischen Clubs der in der Paulskirche tagenden Nationalversammlung als Treffpunkte und Tagungsorte, um sich für die Plenardebatten zu positionieren.

So trafen sich im Casino am Roßmarkt die Liberalen. Sie stellten in der aus 587 Abgeordneten bestehenden Nationalversammlung die größte Fraktion. Ihr Ziel war die Errichtung einer parlamentarischen und konstitutionellen deutschen Monarchie nach britischem Vorbild. Sie saßen in der Mitte des Plenums.

Rechts von ihnen saßen die Konservativen, die sich im Steinernen Haus und im Cafe Milani trafen. Sie verteidigten die absolute Macht der Monarchen des Deutschen Bundes und damit den politischen Status Quo. Auf der linken Seite des Plenums saßen die Demokraten, die sich unter anderem im Deutschen Hof trafen. Sie wollten die Monarchie durch eine parlamentarische und demokratische Republik ersetzen.

Die Abgeordneten des Paulskirchenparlaments, das 1849 eine liberale Reichsverfassung verabschiedete und dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone antrug, waren politisch selbstbewusste Wirtschafts- und Bildungsbürger, die infolge der Urbanisierung und Industrialisierung einen sozialen, aber keinen politischen Aufstieg erlebt hatten. Deshalb forderten sie: "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland, wie es Hoffmann von Fallersleben 1841 in seinem "Lied der Deutschen" gefordert hatte.

Diese Männer, Frauen waren damals noch von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen, trafen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, auch jenseits von Frankfurt am Main, in Cafes und Gasthäusern, um Zeitungen zu lesen und ihre politischen Ideen zu diskutieren. Auch die Essener und Mülheimer Demokraten und Liberalen hatten 1848/49 im Kettwiger Cafe Parlament einen Treffpunkt und Tagungsort, an dem sie auch ihre Zeitung, den Wächter an der Ruhr lesen konnten.

Doch weil die Liberalen und die Demokraten die Mehrheit und das Recht, nicht aber die militärische Macht auf ihrer Seite hatten, trugen am Ende die deutschen Monarchen und die Konservativen den politischen Sieg davon. Den Worten des späteren preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm I. folgend: "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!", wurde die bürgerliche Revolution 1849 blutig niedergeschlagen.

Doch die Ideen von 1848/49 waren und blieben in der Welt, auch wenn diese Jahre später oft als "Tolle Jahre" politisch verharmlos und diskreditiert wurden. Immerhin gehörten 51 ehemalige Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung auch dem Reichstag des  1871 gegründeten Deutschen Kaiserreiches an. Doch die Idee einer liberalen deutschen Verfassung mit garantierten bürgerlichen Freiheiten und Grundrechten sollten erst 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung und 1949 mit dem Grundgesetz für die Bundespublik Deutschland Wirklichkeit werden.

Sonntag, 26. Oktober 2025

Apropos Stichwahl

 Mülheimer Stichwahlen haben es in sich. Das zeigte sich auch bei der jüngsten Stichwahl, mit der Oberbürgermeister Marc Buchholz knapp und im zweiten Anlauf im Amt bestätigt worden ist.  Wie schon die erste OB-Stichwahl im September 1999, zeigte diese Stichwahl: Bei einer Wahl kommt es auf jede Stimme an, die gut abgegeben und gezählt werden will.

Denn wie schon anno '99 stand das endgültige Wahlergebnis auch diesmal erst nach einer Nächzählung fest. Und wie vor 26 Jahren konnten sich die Sozialdemokraten auch diesmal nur kurzfristig als Wahlsieger fühlen und feiern. War am 26. September 1999 der sozialdemokratische Stadtverordnete Thomas Schröer mit 33 Stimmen Vorsprung zum Wahlsieger und damit zum Oberbürgermeister ausgerufen worden, so hatte Mülheims SPD-Chefin Nadia Khalaf am 28. September 2025 auch nur kurzfristig Freude an ihrem 67-Stimmenvorsprung, der ihr die Wahl zur dritten Mülheimer Oberbürgermeisterin verhieß.

Damals wie heute waren die Christdemokraten, 1999 mit ihrem Kandidaten Dr. Jens Baganz und 2025 mit dem Amtsinhaber Marc Buchholz die glücklichen Gewinner. Dabei fiel ihr, im zweiten Anlauf, amtlich festgestellter Vorsprung mit 2025 mit 201 Stimmen deutlicher aus als bei der ersten OB-Direktwahl, als der Jurist Jens  Baganz nach der Nachzählung am Ende mit einem Plus von 58 Stimmen als erster direktgewählter Oberbürgermeister Mülheims feststand. "Das war eine Achterbahn der Gefühle, die man niemandem wünscht", hat sich der inzwischen bei den Grünen politisch aktive Baganz vor der jüngsten Stichwahl an den Wahlkrimi des Jahres 1999 erinnert.

Mit der Direktwahl des Oberbürgermeister wurde das nordrhein-westfälische Kommunalwahlrecht demokratischer, weil die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger jetzt über die hauptamtliche Stadt- Rats- und Verwaltungsspitze mitbestimmen konnten, wie das außerhalb unseres 1946 von den Briten gegründeten Bundeslandes, bereits seit Jahrzehnten der Fall war.

Dass es bis 1999 eine vom Rat der Stadt gewählte Doppelspitze gab, die aus einem ehrenamtlichen Oberbürgermeister und einem hauptamtlichen Oberstadtdirektor gab und damit die Spitzen von Stadt, Rat und Verwaltung personell getrennt waren, war dem Vorbild der britischen Kommunalverfassung, die die britische Militärregierung im Rahmen ihrer Reeducation 1946 in ihrer Besatzungszone einführte, zu der auch Mülheim an der Ruhr gehörte.

Apropos Stichwahl. Stichwahlen kannten die Mülheimer auch schon zu Kaisers Zeiten. Auch damals wurde der Oberbürgermeister vom Stadtparlament gewählt, das sich aber auf der Basis eines steuerzensusbasierten und damit undemokratischen. Dreiklassenwahlrechtes gewählt wurde. Wie seit 1999 waren Mülheims Oberbürgermeister auch bis 1945 hauptamtliche Stadtoberhäupter, Ratsvorsitzende und Verwaltungschefs.

Doch wer zwischen 1871 und 1918 als Abgeordneter in den Deutschen Reichstag einziehen wollte, musste in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit der Stimmen gewinnen, die damals allerdings ausschließlich von den mit 21 Jahren volljährigen Männer abgegeben werden konnten. Das Frauenwahlrecht sollte erst 1918 mit der Weimarer Republik eingeführt werden. Man(n) staunt noch heute über diese späte Demokratisierung der Politik, die inzwischen Oberbürgermeisterinnen, Ministerinnen, Ministerpräsidentinnen und Bundeskanzlerinnen hervorgebracht hat. Denn ohne Frauen ist keine Stadt und kein Staat zu machen.

Das sah man(n) bis 1918 aber anders und sah sich mit dem allgemeinen und freien Reichstagswahlrecht schon an der Spitze des demokratischen Fortschritts. Dieses absolute Mehrheitswahlrecht, wie es heute noch in Frankreich praktiziert wird, führte im Mülheimer Wahlkreis der Kaiserzeit zu Stichwahlentscheiden, die in der Regel von nationalliberalen Kandidaten gewonnen wurden.

Nur bei der Reichstagswahl 1907 wurde mit dem Tischler Clemens Hengsbach ein Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt. Kein Wunder. Denn erst ab 1906  erhielten Reichstagsabgeordnete Diäten. Bis dahin hatten sich nur gutbetuchte Wirtschafts- und Bildungsbürger die Ausübung eines Reichstagsmandates leisten können.

Sonntag, 21. September 2025

Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte

Im Leben ist alles politisch, auch die Fotografie, zumal in Wahlkampfzeiten. Und so setzten die Mülheimer Fotografinnen und Fotografen Andreas Köhring, Marie Brüske, Frank Koch und Elisabeth Harbecke in diesen Tagen und Wochen des Mülheimer Kommunalwahlkampfes Kandidatinnen und Kandidaten für das Stadtparlament und für die Stadtspitze ins rechte Bild, je größer, desto besser.

Denn Wahlplakate wollen auch im schnellen Vorbeigehen und Vorbeifahren als Erinnerungsposten für den Wahltag unübersehbar sein. "Bei unseren Plakatfotos geht es weniger um politische Inhalte, als vielmehr um Sympathie, Reichweite und um den Wiedererkennungseffekt", sind sich die am Plakatstandort Klostermarkt befragten Foto-Profis mit Blick auf ihre Kunstwerke in Sachen Demokratie und Wahlwerbung einig.

Elisabeth Harbecke, die mit der Grünen (Umweltamtsleiterin) Ulrike Bresa erstmals eine OB-Kandidatin ins Bild gesetzt hat, ist überrascht, dass bei den Fotoshootings ihrer Kolleginnen und Kollegen auch eine Visagistin zum Einsatz gekommen ist. Sie selbst ist mit ihrer OB-Kandidatin durch die Innenstadt gegangen und ist am Torbogen in der Altstadt und am neu entstehenden Radweg auf der Kaiserstraße auf der Suche mach einer authentischen Foto-Location fündig geworden. Andreas Köhring und seine Kollegin Marie Brüske haben ihre OB-Kandidatin Nadia Khalaf von der SPD mit einer zuhörende Nachdenklichkeit ausstrahlenden Gesprächssituation im Stadtquartier Schloßstraße inszeniert.

Frank Koch verrät, dass er seinen OB-Kandidaten Peter Beitz und seine Mitbewerberinnen und Mitbewerber pragmatisch im Sinne einer individuellen Terminplanung zum Shooting in sein Fotostudio gebeten hat. Das Ziel ihres Wahlkampfes, das Rathaus bildet den computertechnisch geschaffenen Hintergrund ihres Gruppenportraits. Die Liberalen setzten auf ein Teamfoto ihrer Spitzenkandidatinnen und Kandidaten für den Rat. Im Instagram-Stil haben sie die Konterfeis ihrer Kandidaten und Kandidatinnen für das Stadtparlament mit deren farblich hervorgehobenen Namen versehen.

Unabhängig von der Frage, wer am Ende für wen, das politisch perfekte Bild abgibt, sind sich Köhring, Koch, Brüske und Harbecke am Ende der plakativen Bildbetrachtung in Wahlkampfzeiten darin einig, "dass uns Demokratie alle angeht und wir uns deshalb nicht nur mit Blick auf die Wahlplakate, ein Bild von den zur Wahl stehenden Kandidaten und Kandidatinnen machen sollten", um nach bestem Wissen und Gewissen eine gute Wahl für unsere Stadt und damit für uns alle treffen zu können.  

Freitag, 5. September 2025

Mülheimer Höhenflüge und Bruchlandungen

 Der größte Flughafen an Rhein und Ruhr liegt im Ruhrgebiet. Das war Mitte der 1930er Jahre Realität. In einer Zeit, in der das Fliegen noch der pure Luxus war, war der 1925 in Raadt eröffnete Flughafen Essen/Mülheim als Rhein-Ruhr-Flughafen Westdeutschlands wichtigster Flughafen. Von hier aus konnte man Ziele in Deutschland und Europa erreichen, wenn Geld kein Problem war. Doch auch für die Schönen und Reichen war das Fliegen damals so ein teurer Spaß, dass sich die Fluggäste vor ihrem Start ablichten ließen, um ihre Flugreise auch zu dokumentieren. Geld spielte auch für die Führer Nazi-Deutschlands keine Rolle. Zwischen 1933 und 1940 flogen deshalb auch Hermann Göring, Joseph Goebbels und Adolf Hitler hier ein, um ihre industriellen Unterstützer Kirdorf, Thyssen und Krupp zu besuchen, Ehrenbürgerschaften der Ruhrstädte entgegenzunehmen oder das NS-Parteivolk auf Linie zu bringen und zu halten.

Lieber erinnern wir uns heute daran, dass in den 1980er und 1990er Jahren so prominente Zeitgenossen, wie Queen Elisabeth II., Carl Gustaf XVI. von Schweden, Papst Johannes Paul II. und Bundespräsident Roman Herzog von Amtswegen in Essen/Mülheim gelandet sind.

Auch die Zeppelin-Landungen der Jahre 1931 und 1939 waren echte Publikumsmagneten. So steil der Aufstieg des Flughafens Essen/Mülheim vor dem Zweiten Weltkrieg war, so steil war auch sein nachfolgender Abstieg. Aus dem Militärflughafen, der auch mithilfe unmenschlicher Zwangsarbeit ausgebaut wurde, machte die britische Militärregierung ab 1945 einen LKW-Parkplatz. 

Luftverkehr gab es in Essen/Mülheim erst wieder ab 1950. Der 1925 gegründete AERO-Club und die 1955 von Theo Wüllenkemper und Inge Bachmann gegründete Westdeutsche Luftwerbung machten es möglich. Wie in den 1930er Jahren wurde der Flughafen  Essen/Mülheim in den 1950er Jahren wieder zum Ausbildungsflughafen. Auch heute werden in Essen/Mülheim Pilotinnen und Piloten ausgebildet. 65 Prozent aller Flugbewegungen in Raadt sind heute Ausbildungsflüge. Obwohl mit Theo Wüllenkemper (WDL) und Kurt Conle (LTU) zwei Mülheimer Unternehmer im Zuge des westdeutschen Wirtschaftswundes auch ins Flugreisegeschäft einstiegen, muss die Nachkriegsgeschichte des Flughafens Essen/Mülheim als eine Geschichte der verpassten Chancen erzählt werden. Politische Grundsatzentscheidungen führten dazu, dass die ursprünglich kleineren Flughäfen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Bundeshauptstadt (Köln)Bonn zu Ungunsten von Essen/Mülheim ausgebaut wurden. In den 1950er Jahre vereitelten juristische und politische Wiederstände den Ausbau zum Forschungsflughafen. Essen/Mülheim war damals sowohl als Standort für das Luftfahrtbundesamt als auch als Sitz des heute in Köln ansässigen Deutschen Luft- und Raumfahrt-Zentrums im Gespräch. Neben den Flugschulen und dem AERO-Club sorgt heute vor allem die WDL, die seit 1972 Luftschiffe für Werbekunden und zu Rundenflügen aufsteigen lässt, dafür, dass der vor100 Jahren in Betrieb genommen worden ist, ein lebendiger Luftfahrtort bleibt und dank einer neuen Luftschiff- und Eventhalle auch zu einem beliebten Veranstaltungsort geworden ist. Mehr über den Flughafen Essen/Mülheim erfährt man unter anderem hier

Sonntag, 31. August 2025

Mülheim inklusive

 Folgt man den Statistikern von IT NRW, dann leben in Mülheim an der Ruhr rund 18.000 Menschen mit einer Behinderung. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, da nur die Menschen gezählt werden, die als Inhaberin und Inhaber eines Schwerbehindertenausweises registriert sind.

"Wir sind nicht behindert. Wir werden behindert", sagt die neue Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Behindertenselbsthilfe und Chronisch Kranker, Ursula Busch. Rechtzeitig vor der Kommunalwahl ließen sich die Kandidatinnen und Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt von der AGB im Rollstuhl durch die Innenstadt schieben und sich im Nachgang in einer Podiumsdiskussion zu ihren inklusionspolitischen Vorstellungen befragen. 

Ihr immer wieder zu hörender Erfahrungsbericht nach der Rollstuhlstadttour lautete: "Man sieht und erlebt die Stadt im Rollstuhl anders und man wird auch anders gesehen beziehungsweise schneller übersehen, weil man eben eine Etage tiefersitzt!"

Zu hohe oder zugeparkte Bordsteine und Bürgersteige, Einstiegs- und Ausstiegsprobleme beziehungsweise Unfallrisiken im öffentlichen Personennahverkehr, zu klein gedrucktes und zu umständlich formuliertes. All das und noch vielmehr kam bei der Diskussionsveranstaltung im Heißener Nachbarschaftshaus der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft zur Sprache. Allein die Tatsache, dass es die AGB als Behindertenbeirat der aktuell 175.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt Mülheim an der Ruhr bereits seit 1979 gibt und dass die AGB schon 1992 eine bis heute gültige Checkliste für barrierefreies Bauen erstellt hat, zeigt, dass das Thema Inklusion ein gesellschaftspolitischer Dauerbrenner ist und bleibt. 

Die Diskussionsveranstaltung der AGB legte aus gutem Grund beim Thema Finanzen und Personal den Finger in die Wunde. Immerhin hat der Stadtrat der AGB erstmalig einen Einmalbetrag von 5000 Euro bewilligt. Doch zurzeit wird die ehrenamtlich arbeitende AGB vor allem durch die hauptamtlichen Personalprobleme im Gesundheitsamt der Stadt Mülheim an der Ruhr ausgebremst. Denn im Gesundheitsamt an der Heinrich-Melzer-Straße ist mit der Behindertenbeauftragten auch die Geschäftsstelle der AGB angesiedelt. Doch diese Geschäftsstelle ist aufgrund eines akuten Personalmangels nur zwei Stunden pro Woche besetzt. Ursprünglich wurden der hauptamtlichen Geschäftsführung der AGB acht Arbeitsstunden pro Woche zugestanden, was auch schon nicht gerade großzügig war.

Dienstag, 12. August 2025

Weise, aber nicht leise

Der Mann, der bei Bild Hans Esser war, rät seinem Publikum: "Leute lest Zeitung!" Der Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff, der inzwischen zur Generation 80 Plus gehört, liest täglich fünf Zeitungen. Sagt er. Auch im digitalen Zeitalter ist das recherchierte und gedruckte Wort das beste Gegengift gegen Fake News und das beste Lebenselixier für eine funktionierende und wehrhafte Demokratie, deren gebildete und nicht nur an Wahlsonntagen aktive Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sich kein X für ein U vormachen lassen. Bei der sommerlichen Sonntagsmatinee, zu dem das Theater an der Ruhr hält Wallraff, interviewt vom Schriftsteller Ralph Hammerthaler, einen Gottesdienst für die Gläubigen. Sein bildungsbürgerliches Publikum kennt ihn und schätzt ihn, ist als Fankurve in den Raffelbergpark gekommen und verschafft ihm so ein Heimspiel.

Ob als Unfreiwilliger bei der Bundeswehr, ob als freiwillig Gefangener der griechischen Militärdiktatur (1973), ob als Hans Esser bei der Bild (1977) oder als türkischer Arbeiter Ali bei Thyssen (1985): Wallraff, der auch noch mit mehr als 80 Jahren in Jeans, T-Shirt, Turnschuhen und Basecap, wie ein jugendlicher Rebell auftritt, sagt: "Jeder hat seine Möglichkeiten. Wir können die Welt nicht retten. Aber wir können Menschen helfen, die unsere Hilfe brauchen."

Aus seiner eigenen Biografie weiß er: "Auch wenn ich selbst ein Einzelgänger bin, weiß ich doch, dass wir nur gemeinsam etwas erreichen und unsere Gesellschaft besser machen können!" Dankbar ist er für die demokratische Gegenöffentlichkeit, die ihm immer wieder ein Forum gab und ihn den Rücken stärkte, wenn er von Prozessen seiner mächtigen Gegner überzogen, mit dem Rücken zur Wand stand.

Und auch als flotter Achtziger lässt ihn das Unrecht und die Unmenschlichkeit in unserer Gesellschaft nicht ruhen. Deshalb hat er jetzt das Thema Pflege im Visier. Seine Position ist klar: Mit der Pflege sollte kein Geld verdient werden. profitmaximierende Aktiengesellschaften haben in der sozialen Gemeinschaftsaufgabe Pflege nichts zu suchen. 

Trotz positiver Pflege-Beispiele sieht Wallraff in weiten Teil des realexistierenden stationären und ambulanten Pflegebetriebs Deutschland die Menschenwürde der Pflegebedürftigen und der Pflegenden als verletzt an. 

Freitag, 4. Juli 2025

Eine starke Frau

Zurecht ist sie oft mit der Albert-Schweitzer verglichen worden. Ihr Lambrene heißt Litembo und liegt in Tansania. Und für sie gilt auch Albert Schweitzers Satz: "Das schönste Denkmal, das wir uns setzen können, ist das in den Herzen unserer Mitmenschen." 

Jetzt ist Mülheimer Ärztin Dr Irmel Weyer im Alter von 98 Jahren verstorben. Von 1960 bis 1996 hat sie dort die vormalige Gesundheitsstation der Benediktinerinnen zu einem angesehenen Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft ausgebaut. Heute leiten sechs einheimische Ärzte in Litembo eine 320-Betten-Klinik. Ihre medizinische Ausbildung in England, Deutschland und Österreich verdanken sie Irmel Weyer und ihren Unterstützern. 
Pastor Erich Endlein aus ihrer Heimatgemeinde St. Engelbert ist, hat sich ein solches menschliches Denkmal mit der Klinik in Luxemburg Tansania gesetzte , die Klinik in den Jahren 1960 bis 19 war der Mann an ihrer Seite, indem er 1967 einen Förderverein ins Leben rief, der inzwischen zur Dr.-Irmel-Weyer-Stiftung geworden ist.

In der NS-Zeit gehörte Weyer zur katholischen Jugend, die von den damaligen Machthabern nicht gerne gesehen wurde und sich deshalb im Keller des Gemeindehauses an der Aktienstraße versammeln musste. Dort an der Aktienstraße hatte Weyer bis zuletzt eine eine Wohnung, obwohl sie nach ihrer Pensionierung in Ostercappeln lebte und dort ihre ältere Schwester pflegte.

"Ich wollte Menschen helfen. Und ich wollte es tun, wo es bisher noch niemand anderes getan hat", hat Irmel Weyer 2010 die Motivation ihres Lebensweges beschrieben. 

Nach dem Abitur an der Luisenschule studierte Weyer in Passau und Regensburg Medizin. Dort kam sie auch mit den Benediktinerinnen in Kontakt, die ihre den Weg nach Litembo wiesen. Dort führte sie im November 1960 in einer Lehmhütte und im Schein einer Taschenlampe dann ihre erste Operation aus. Freiwillig und bewusst verzichtete Dr. Irmel Weyer auf Ehe und Familie, um möglichst vielen Menschen mit ganzer Kraft helfen und beistehen zu können.

Sonntag, 29. Juni 2025

Sozial und liberal

 Sie war eine Sozialliberale. Jetzt ist die ehemalige FDP-Fraktionsvorsitzende Brigitte Mangen im Alter von 88 Jahren verstorben.

Ihr ebenfalls in der FDP aktiver Sohn Christian nennt seine Mutter eine "Preußin". Und damit meint er nicht nur ihre westpreußische Herkunft, sondern auch ihren disziplinierten Lebensstil.

Die Mülheimer Stadtgesellschaft, deren Teil die zweifach Mutter und vierfache Großmutter 1968 wurde, wird Brigitte Mangen vor allem als langjährige Gründungsvorsitzende des Kinderschutzbundes und als Madame La Tours in Erinnerung behalten. Schon vor der Gründung des Mülheimer Städtepartnerschaftsvereins (1995) kümmerte sich Mangen federführend und herausragend um die 1962 begründete Städtepartnerschaft mit Tours, 

Ihr Engagement hat seine Wuzeln sicher in ihrer Biografie als Vertriebe und als Finanzbeamtin, die in den Jahren 1958 bis 1968 für die Europäische Kommission in Brüssel gearbeitet hatte.

Zu ihrem Selbstverständnis als Sozialliberale, die 1999 in die kommunalpolitische Nachfolge ihres 1998 verstorbenen Ehemannes Rolf getreten war, gehörte auch ihr ebenfalls ehrenamtliches Engagement in führenden Positionen des weltanschaulich und parteipolitisch unabhängigen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Brigitte Mangen wird uns fehlen, aber auch unvergessen bleiben. 

Samstag, 28. Juni 2025

Automobilissimo

 Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind. Das konnte man auch jetzt beim Oldtimertreff in und an der Alten Dreherei wieder einmal miterleben. Und auch wer selbst eher zur Fraktion der Fußgänger oder Bus- und Bahnfahrer gehört, kann sich der Faszination der Automobilität von Anno dazu mal nicht ganz entziehen. Jedes Auto, was zwischen Kamera obscura ringlokschuppen und Feuerwache zu sehen war hatte seine eigene Geschichte. Das Kennzeichen H, wie historisch, wie es auch Fahrzeuge tragen, weist auch Autos als Oldtimer aus, die noch gar nicht so ganz alt sind. 

Der Vorteil für die historischen Fahrzeughalter: Sie brauchen nur einen einheitlichen Kraftfahrzeugsteuersatz bezahlen, benötigen keine Umweltplakette und müssen auch moderne Standards, wie etwa Sicherheitsgurte, nicht nachträglich einbauen. Die Sicherheitsgurte, die in den frühen 1980er Jahren gegen heftigen Widerstand der Autofahrerlobby vom damaligen CSU-Bundesverkehrsminister Werner Dollinger mit Blick auf die hohen Unfallzahlen durchgesetzt wurde, sucht man zum Beispiel im Ford Taunus aus dem Baujahr 17M  vergeblich. Ungewöhnlich ist auch, das besonders große Lenkrad, auf dem das Kölner Stadtwappen prangt und uns damit darauf hinweist, dass dieses Fahrzeug bei Ford in Köln vom Band gelaufen ist. Für heutige Autofahrer gewöhnungsbedürftig ist auch der Steuerknüppel, der gleich am Lenkrad montiert ist und die Handbremse, das Wort sagt es, die von Hand gezogen werden muss. 

Warum sich wer welches Fahrzeug aus längst vergangenen Baujahren anschafft? Die meisten Oldtimer-Eigentümer erzählen davon, dass sie schon als Kinder und Jugendliche von einem bestimmten Fahrzeugtyp begeistert waren, den sie sich aber als junge Berufstätige nicht leisten konnten. Genauso ging es vor 50 Jahren einen jugendlichen VW-Käfer-Fahrer, der inzwischen, seinem Mercedes 200/8 aus dem Baujahr 1975 sei Dank, doch noch ein glücklicher Mercedesfahrer geworden ist. Das Fahrzeug konnte er gegen eine Spende für einen guten Zweck von einer alten Dame bekommen und ihn so vor der Verschrottung bewahren.  "Das ist für mich wie eine Zeitreise in meine Jugend, vor allem, wenn die entsprechende Musik im Autoradio läuft", sagt der Mülleimer, der im Baujahr seines Fahrzeugs 23 Jahre jung war. 

Bemerkenswert ist auch ein orangener Rennwagen mit Flügeltüren. Sein Besitzer berichtet davon, dass er das 1969 von Wartburg gebaute Fahrzeug 1992 in Ostdeutschland für kleines Geld erwerben konnte. Es handelt sich, wie er nicht ohne Stolz zu berichten weiß, um einen Melkus RS 1000 das einzige rennfahrzeug, dass zwischen 1969 und 1979 in der DDR gebaut wurde. Seine Spitzengeschwindigkeit von 165 km/h hört sich heute nicht gerade spektakulär an. Die Dimension dieser Geschwindigkeit wird aber deutlich, wenn man sich vor Augen führt, und dass auf den Autobahnen der DDR Tempolimit 100 galt. 

Ebenfalls in Orange und fast wie neu, blinken auch der Opel Olympia und der VW-Käfer, die in den 1950er Jahren, die Schokoladen, Pralinen und Vertreter der 1867 in Mülheim gegründeten Firma Wissoll zur Kundschaft brachten, 

Stilecht gekleidet kreuzt ein Ehepaar mit einem Mercedes Cabriolet auf, das mit seiner Vorkriegssilhouette scheinbar aus den 1920er Jahren kommt, tatsächlich aber, wie sein angesichts des starken Sonnenscheins gut behüteter Fahrer verrät, mit der Technik der 1960er Jahre ausgestattet ist. Denn bei seinem Mercedes Cabriolet SSK handelt es sich um einen im besten Sinne des Wortes filmreifen, weil auch für Hollywood gebauten Nachbau des Originalfahrzeugs. 

Im Vergleich zu Mercedes Cabriolet SSK erscheint der VW Kübelwagen aus dem Baujahr 19 74 geradezu profan. Doch wenn man seinen Besitzer von "der ganz anderen Art des Autofahrens schwärmen hört, fühlt man etwas von der Faszination, die von einem Fahrzeug ausgeht, das, wie sein Halter berichtet: "Wie wenig man eigentlich braucht, um ein Auto zu fahren."

"Luftiger und leichter geht es nicht", sagt der Mittvierziger mit Blick auf seinen Kübelwagen, der in seinem ersten Leben im Katastrophenschutz eingesetzt war, und sich in Notfall auch schnell auseinander- und wieder zusammenbauen lässt, und der, wenn es darauf ankommt, im Sommer auch ohne Windschutzscheibe gefahren werden kann. "Wenn ich am Wochenende mit meinem Kübelwagen über Land fahre und in der nächsten Eisdiele einen Zwischenstopp einlege, bekomme ich den Kopf vom Alltagsstress frei", berichtet sein Besitzer und strahlt über das ganze Gesicht. Man glaubt ihm sofort.



Montag, 16. Juni 2025

Kleines ganz groß

 Sie sind echte Macher, die Männer und Frauen um Martin Menke, die mit ihrem Trägerverein, neues Leben in die Alte Dreherei des ehemaligen Eisenbahnausbesserungswerkes Speldorf gebracht haben, zuletzt mit einer Europäischen Straßenbahnmodellausstellung, die sich 2000 Besucherinnen und Besucher aus gutem Grund nicht entgehen ließen.

Eingeladen von der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft VHAG, die auch in Essen und Mülheim, also bei der Ruhrbahn einen Ableger hat, präsentierten 45 Austeller aus fast ganz Europa ihr Miniatur-Straßenbahnwelt mit viel Liebe zum Detail. Da fehlte im Nachbau einer japanischen Straßenbahnlandschaft dann auch nicht die japanische Haltestellenansage: "Bitte, zurücktreten. Die Türen schließen. Die Bahn fährt ab."

"Großartig, was die hier auf die Gleise gezaubert haben", fanden nicht nur Duisburger Eisenbahnmodellbauer, die die etwas anderen Miniaturmodellbahnen nur zu gern unter die Lupe nahmen.

Wie man von den Trammodellbauern erfahren konnte, zaubern sie ihre Straßenbahn- und Landschaftsmodelle nicht nur mit Fingerspitzengefühl und Kleinstwerkzeugen, sondern auch mithilfe des Drei-D-Druckers auf ihre zwischen 1,5 und 9,5 Meter langen Panoramastrecken.

Der Wiener Modellstraßenbahnbauer Robert Neumann ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, bei der Messe mit den großartigen Kleinformaten einige seiner treuesten Kunden, die nicht nur aus Europa kommen, persönlich zu treffen und sich  dabei auch die eine oder andere Planskizze von Straßenbahnmodellen anzuschauen, die er noch nicht in seinem Sortiment hat, aber mithilfe der Vorarbeit der Straßenbahnmodellbauenthusiasten vielleicht bald haben wird. 

Auch die historischen Straßenbahnwagen kamen bei den Modellbauern nicht zu kurz. So war die 1900 von Kaiser Wilhelm II. eröffnete Wuppertaler Schwebebahn ebenso klein, aber fein zu entdecken, wie die erste Niederflurstraßenbahn aus dem Baujahr 1934. Und der neue Straßenbahnanschluss der Alten Dreherei machte es auch möglich Messegäste  in einer Tram aus dem Baujahr 1949 von Speldorf nach Dümpten und wieder zurück zu chauffieren. 

Wer so durch die Stadt fährt, auf der Holzbank und mit Haltestellenklingel, aber leider ohne die Schaffnerin oder den Schaffner, der Anno Dazumal das Schwarzfahren schlicht unmöglich machte, fühlt sich wie auf einer Zeitreise. "Die Holzaufbauten der alten Straßenbahnen haben einfach mehr Stil als unsere heutigen Straßenbahnen", meint ein Fahrgast nach dem Ausstieg an der Endstation Alte Dreherei. Recht hat er.

Das gilt auch für einen Straßenbahnwagen aus dem Baujahr 1921, der in seinem neuen alten Glanz vor der Alten Dreherei ausgestellt, aber leider nicht in Bewegung gesetzt werden konnte. Als dieses alte Schätzchen noch auf der Strecke unterwegs war, kannten und schätzten die alten Mülheimer ihre Tram als preiswertes und umweltfreundliches Transportmittel, das mit seiner E-Mobilität, schon lange, bevor das benzingetriebene Auto des Deutschen liebstes Kind wurde, seiner Zeit schon weit voraus war. Also doch?! Vorwärts und zurück in die Zukunft.

Mehr über die Alte Dreherei finden Sie hier und über die Verkehrshistorische Arbeitsgemeinschaft hier.

Freitag, 6. Juni 2025

Mut zur Lücke

 Als die Schlossstraße 1974 eine Fußgängerzone wurde, war das Wort Leerstand im Einzelhandel ein Fremdwort. Ein Geschäftslokal auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt zu unterhalten, gehörte für Einzelhändler und Dienstleister zum guten Ton. Doch damals kannte man auch noch keinen Online-Handel. 

Inzwischen sind selbst stationäre Einzelhändler auf den Internethandel angewiesen, um den Bewusstsein ihres Umsatzes online zu erwirtschaften. Was für die einen zum Fluch wurde, war für den Galeristen Gerold Harmé ein Segen. Schon in den frühen 2000er Jahren beschäftigte sich, der 1966 in Düsseldorf geborene Kunsthistoriker, Archäologe und Musiker, dem ein Asthma-Leiden, seinen eigentlichen Berufswunsch Sänger verwehrte, mit den Möglichkeiten des Internets im Rahmen des Kunsthandels. Damit gehörte er zu den Pionieren in seinem heutigen Metier. Der Liebe wegen, seine Frau ist Musikpädagogin, kam der Rheinländer vor 20 Jahren an die Ruhr und eröffnete zunächst an der Wall- und dann an der Schlossstraße 29 seine Galerie. Klein, aber fein, gehen hier Ausstellungen und andere  Kulturveranstaltungen, wie Konzerte und Lesungen, über die Bühne. "Wir brauchen nicht nur Geld, sondern auch Kreativität", sagt der Galerist mit Blick auf eine mögliche Renaissance der Schlossstraße. 

Harmé sieht seine Galerie als Kulturnische und macht keinen Hehl daraus, "dass die Art und Weise wie ich mit Kunst arbeite und handle, genau für diesen Ort und nicht für das und nicht für das mondänere Düsseldorf geeignet ist." Seine Kunden, die ihn zuweilen auch in der Galerie an der Schlossstraße besuchen, kennen die Situation der Innenstädter die kein originär Mülheimer Problem ist. "Sie sind froh wenn sie hier in der Nähe eine Kleinigkeit essen oder trinken können und es dann nicht weit bis zum Hauptbahnhof haben", weiß Harmé. 

Seine zunehmend multikulturelle Nachbarschaft, sieht der Galerist nicht als Standort-Nachteil, sehr wohl aber "das Säuferparadies an der unteren Schlossstraße." Erleichtert wäre er, wenn sich die sozialer Brennpunkt mithilfe der Polizei, des Ordnungsamt und der lokalen Sozialarbeit in Wohlgefallen auflösen könnte

Mehr über die Galerie Harmé erfahren Sie hier.


Dienstag, 3. Juni 2025

Ihrer Zeit weit voraus

Das die vermeintlich guten alten Zeiten gar nicht so gut waren, kann man in den Erinnerungen der ersten deutschen Polizeiassistentin Henriette Arendt anno 1910 anschaulich nachlesen. 

Dort berichtet sie über verwahrloste Kinder, die von ihrem abwesenden und überforderten Eltern allein gelassen und so dem sicheren Tod preisgegeben werden. Sie berichtet von Dienstmädchen, die von ihrer Herrschaft geschwängert, auf die Straße gesetzt worden sind und in ihrer ausweglosen Not auch schon mal ihr neugeborenes Kind in einen Brunnen werfen, um es ertrinken zu lassen oder im besseren Fall es bei der Polizei abzugeben und sich aus dem Staub zu machen. 

Arendt, die 1903 als Krankenpflegern zur Stuttgarter Polizei kommt, berichtet auch von einem kleinen betrunkenen Mädchen, das ganz begeistert von seinem regelmäßig betrunkenen Vater erzählt. Er nehme es mit in die Kneipe und gebe ihn dort reichlich zu trinken gibt, um es anschließend unter dem Tisch schlafen zu lassen. 

Henriette Arendt, eine selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die 1874 in eine ostpreußische Kaufmannsfamilie hineingeboren wird, entscheidet sich gegen eine Tätigkeit als Buchhalterin und für den sozialen Beruf der Krankenpflegerin. 

Vermittelt von der Vorsitzenden ihres Berufsverbandes, kommt sie 1903 zur Stuttgarter Polizei. Dort wird sie eingestellt, um ihren männlichen Kollegen bei Vernehmungen und ärztlichen Untersuchungen junger und weiblicher Strafgefangener zu assistieren. Schnell erkennt sie die sozialen Ursachen, die Frauen dazu treiben, sich zu prostituieren, zu trinken, ihre Kinder verwahrlosen zu lassen oder sie zu töten.

Arendt setzt sich nach Kräften für ihre vom Leben gebeutelten Schützlinge ein. Doch in einer Gesellschaft, die Frauen nur ein Leben unter den Vorzeichen der 3 Ks: Kinder, Küche gestattet wird, und in der sie selbst als eine von bald 65 deutschen Polizeiassistentinnen schlechte Karten. Denn ihren männlichen Kollegen darf sie nur zuarbeiten und ihren Anweisungen muss sie folgen. Immer wieder berichtet sie von "bürokratischer Engherzigkeit", von der sie ihrer Fürsorge für gefallene Frauen und Mädchen ausgebremst wird.

Ihr größter Fehler ist in den Augen ihrer männlichen Vorgesetzten, dass sie ihre An- und Einsichten zur realexistierenden Doppelmoral einer bürgerlichen Klassengesellschaft in Vorträgen, Zeitungsartikeln und Büchern öffentlich macht und damit die vermeintlich gute Gesellschaft schlechtmacht. Ihre Vorgesetzten sprechen von "Sensationsjournalismus" und weisen darauf hin, dass auch Arendts männliche Kollegen diesen betreiben könnten, es aber nicht täten, "weil sie dienstlich zu gut erzogen sind."

Trotz ihrer demütigenden Erfahrungen lässt sie sich in ihrem Tatendrang nicht entmutigen weil sie davon überzeugt ist, dass sich meine Arbeit schon gelohnt hat, "wenn ich auch nur einen Menschen gerettet und auf den rechten Pfad zurückgebracht habe".  Außerdem glaubt sie daran, dass in jedem Menschen, auch in dem Verkommensten, ein göttlicher Funke ist. 

Gar nicht gut an kommt auch ihre Kritik an den gutbürgerlichen Gesellschaft. Während die Herren der Schöpfung ihre Dienstmädchen schwängerten und sie mit ihren ungewollten Kindern dem Elend überließen, blieben sie selbst unbehelligte und gut angesehene Mitglieder der Gesellschaft, lautet ihr Vorwurf.

In ihren Vorträgen und Publikationen fordert sie eine zeitgemäße Fortsetzung der bismarckschen Sozialpolitik. "Es darf nicht sein, dass wir in unserem Staat nur Gesetze haben, mit denen wir sterben können", sagt sie mit Blick auf die von Bismarck nach 1880 eingeführten Kranken- Renten- und Invalidenrentenversicherung. In ihren Augen "brauchen wir auch Gesetze, mit denen wir leben und etwas aus uns machen können."
 
Auch wenn der deutsche Sozialstaat heute bei weitem mehr ausgebaut ist als zu Arendts Zeiten, bleibt das Lebensbeispiel die ersten deutschen Polizisten, die 1922 unverheiratete und kinderlos stirbt auch für die heutige Generation eine Mahnung, dass Sozialstaat und Solidarität in einer Gesellschaft mit Leben gefüllt werden müssen, indem jeder und jede ihren Platz in unserer Gemeinschaft finden und seine Talente entfalten kann und nicht einfach abgehängt und links liegen gelassen wird.

Denn auch heute sind Verwahrlosung und Kindstötungen leider kein Thema von Gestern. Auch die Tatsache, dass 60 Jahre nach Arendts Tod die ersten gleichberechtigten Polizeibeamtinnen in NRW eingestellt wurden und mit der Juristin Dr. Gisela Röttger-Husemann 90 Jahre nach der Einstellung der ersten deutschen Polizeiassistentin Mülheim ihr Amt als erste Polizeipräsidentin angetreten hat, haben daran nichts ändern können.

muss.

Montag, 26. Mai 2025

Der Sämann

 Als der 2014 heiliggesprochene Konzilspapst Johannes XXIII. 1963 starb, war Michael Janßen drei Jahre alt. Und doch hat das Charisma des Angelo Giuseppe Roncalli, der als Papst das II. Vatikanum eröffnete und damit die Türen und Fenster der Katholischen Kirche öffnete, um frische Luft und reformbereite Aufbruchstimmung hineinzulassen so beeindruckt, dass es ihn zu seiner Berufswahl inspirierte. Als Janßen 20 Jahre nach dem Ende des II. Vatikanischen Konzils (1985) zum Priester geweiht wurde, gab es in Mülheim noch 16 Pfarrgemeinden und 15 Pfarrer. Heute betreuen Janßen und sein Amtsbruder Christian Böckmann noch drei Pfarrgemeinden. Doch Janßen, der seit 2004 Pfarrer von St. Mariae Geburt und seit 2008 Stadtdechant ist, macht sich keine Illusionen. Die Zukunft der Mülheimer Stadtkirche sieht er in einer Pfarrgemeinde, die auf dem Kirchenhügel verwaltet wird und deren Kirche nur einer von vielen "christlichen Orten" in der Stadt sein wird,

"Wir müssen als Christen mittendrin in der Stadt sein. Und wenn wir von unserer Frohen Botschaft überzeugt und begeistert sind, werden wir auch andere Menschen davon überzeugen und sie dafür begeistern", glaubt Janßen. Ist das nicht nur frommer Zweckoptimismus angesichts des demografischen und sozialen Wandels, der die Zahl der Mülheimer Katholiken in Janßens 40 Priesterjahren von mehr als 60.000 auf weniger als 40.000 hat schrumpfen lassen.

Angesichts seiner seelsorgerischen Gespräche, die er auch mit den Menschen führt, die aus der Katholischen Kirche ausgetreten sind, bleibt Janßen optimistisch. Auch in seinen Gesprächen mit jungen Menschen spürt er "eine große Sehnsucht nach Halt und Orientierung für ein sinnvolles Leben." Auch ausgetretene Katholiken bestätigen ihnen immer wieder, dass ihr Kirchenaustritt mit dem priesterlichen Missbrauchskomplex in der katholischen Kirche, aber nicht mit ihrem Glauben an die Frohe christliche Botschaft zu tun habe.

Anders, als während des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) sieht Janßen die katholische Kirche nicht im Frühling, sondern im Herbst, also in einer Übergangszeit, in der die Felder beackert und besät werden müssen, ohne dass man die Früchte seiner Arbeit sehen oder ernten könnte. Jesu Gleichnis vom Sämann lässt grüßen.

Zu beackern gibt es auch in der kleiner gewordenen Stadtkirche, daran lässt der inzwischen 65-jährige Janßen keinen Zweifel, auch weiterhin jede Menge. Die "priesterzentrierte Kirche", "die sich an Gebäude klammert, die sie sich nicht mehr leisten kann", sieht er an ihrem Ende. Die von der christlichen Ökumene und dem interreligiösen Dialog geprägten Gegenwart und Zukunft gehöre qualifizierten Laien im kirchlichen Haupt- und Ehrenamt und dem "überfälligen Diakonat der Frau." Auch "verheirateten Männern, die sich in Ehe und Familie bewährt haben", sollte man nach seiner Ansicht den Zugang zum katholischen Priesteramt ermöglichen.

Mehr über Michael Janßens Priesterjubiläum lesen Sie hier und dort

Sonntag, 25. Mai 2025

Erinnernswert

 Radrennfahrer hatten bei mir bisher nicht den besten Ruf. Ich verband sie und ihren Sport vor allem mit Doping. Auch die sogenannten Radfahrer, die auf der Rennstrecke des Lebens nach oben buckeln und nach unten treten, taugen nicht als Vorbilder.

Ganz anders der dreifache Giro-di-Italia und zweifache Tour-de-France-Sieger Gino Bartali, den ich jetzt durch einen Deutschlandfunkbeitrag des Berliner Sportjournalisten Tom Mustroph kennengelernt habe. Er hat uns die menschlich großartige Geschichte des zwischen 1930 und 1953 aktiven Radrennfahrers, der 1914 geboren und 2000 verstorben ist.

Der Italiener aus der Toskana gewann während seiner Karriere mehr als 100 Rennen. Doch seinen menschlich größten Erfolg erfuhr sich Bartali in keinem Radrennen, sondern in den Kriegsjahren 1943/44 Kurier einer jüdisch-katholischen Untergrundbewegung um den florentinischen Bischof und Kardinal della Costa gefälschte Pässe transportierte, mit denen 800 verfolgte Juden auf dem faschistischen Italien vor der deutschen Wehrmacht fliehen konnten, die den Norden Italiens besetzt hatten, nachdem die Amerikaner auf Sizilien gelandet waren.

Weil er damals auch eine jüdische Familie versteckte und sie so vor dem Tod im Holocaust bewahrte, ernannte ihn die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem postum 2013 zum "Gerechten unter den Völkern." Bartali lehnte zeitlebens jede Ehrung ab. Als gläubiger Christ wollte er seinen humanitären Einsatz nicht "wie einen Orden ans Revers heften", sondern in seiner Seele bewahren.

Seinen Spitznamen "der radelnde Mönch" spielte auf seine Religiosität an. Den er gehörte der Laiengemeinschaft des Karmeliterordens an. Nachdem sein jüngerer Bruder Guilio 1936 an den Folgen eines Radrennunfalls  gestorben war, zog sich Bartali zwischenzeitlich aus dem Radrennsport zurück und suchte in einem Karmeliter-Kloster Ruhe und Trost. Nur der Überzeugungskraft seiner damaligen Verlobten und späteren Ehefrau Adriana war es zu  verdanken, dass Gino Bartali seine Karriere als Radprofi  auch für das Andenken seines tödlich verunglückten Bruders Giulio fortsetzte. Und nachdem er nach dem Ende seiner Karriere 1953 eine Fahrradfabrik gründete stifte die ersten drei der von ihm hergestellten Räder stiftete er dem damaligen Papst Pius XII. für bedürftige Kinder und Jugendliche. Kein Wunder also, dass auch die italienische Musiklegende.  Tom Mustrophs DLF-Beitrag über Gino Bartali hören Sie hier Und Paolo Contes musikalische Hommage an Gino Bartali hören Sie hier

Sonntag, 11. Mai 2025

Unter Zwang

 Die NS-Zeit war auch für Mülheim sein dunkelstes Kapitel. 80 Jahre nach dem Ende widmet sich unsere Stadtgesellschaft aus gutem Grund der Erinnerung an jene 25.000 Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs in unserer Stadt Zwangsarbeit leisten mussten. Allein im Reichsbahnausbesserungswerk mussten mehr als 1400 junge und ganz junge Menschen aus der damaligen Sowjetunion für Hitlers Kriegswirtschaft schuften. Dort, wo wir heute im Ringlokschuppen Kultur und Kulinarisches genießen dürfen, wurde am 2. Mai eine erste Gedenktafel aufgestellt, die das erste Glied in einer Kette von Erinnerungstafeln, die man zum Beispiel per Rad auf den Spuren der Zwangsarbeit im Mülheim unter dem Hakenkreuz erfahren kann.

Solche Formen der Erinnerungskultur sind heute notwendiger, denn je, da die Generation der Zeitzeugen ausstirbt und die sichtbaren Spuren der einst 55 Lager aus dem Stadtbild verschwunden sind. Dabei zeigen jüngste Erkenntnisse, die unter anderem vom VVN-Mitglied Günter Zonbergs recherchiert und zusammengetragen worden sind, dass es im Mülheim des Zeiten Weltkriegs 162 Orte gegeben hat, an denen Menschen Zwangsarbeiten leisten mussten, ob in der Industrie, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das zeigt, dass die Zwangsarbeit in der Stadtgesellschaft des Zweiten Weltkrieges allgegenwärtig und sichtbar war. Viele Firmen, Familien, Behörden und andere öffentliche Einrichtungen haben von Zwangsarbeit profitiert, zumal viele deutsche Arbeiter zur Wehrmacht eingezogen worden waren.

Nach Angaben der Stadtverwaltung aus dem Jahre 1950 sind während des Krieges 800 Menschen, die hier als sogenannte Fremdarbeiter eingesetzt waren, während ihrer Zeit in Mülheim an der Ruhr zu Tode gekommen sind. Viele von ihnen sind auf dem Altstadtfriedhof an der Dimbeck begraben, Dort haben auch ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine bei ihrem Mülheim-Besuch im Jahr 2002 Blumen niedergelegt,

Besonders betroffen macht. Den Eltern unter den Zwangsarbeitern wurden ihre Kinder weggenommen. Offiziell wurden sie in staatlichen Kinderheimen untergebracht. Da sie aber nie wieder aufgetaucht sind, muss man von ihrer Ermordung ausgehen. Ermordet wurde auch jene Zwangsarbeit, denen man unterstellte Lebensmittel oder Kleidung gestohlen oder intime Beziehungen zu Deutschen unterhalten zu haben. Während Zwangsarbeiter bei der Trümmerräumung und bei der Bombenentschärfung eingesetzt wurden, wurden viele von ihnen Opfer der alliierten Luftangriffe, weil ihnen der Zugang zu Luftschutzräumen untersagt war. Auch vor dem Hintergrund massiver Misshandlungen durch das Wachpersonal aus den Reihen der SA, der Polizei und der Wehrmacht, die nach dem Krieg nicht geahndet wurden, überrascht es nicht, dass sich viele freigelassene Zwangsarbeiter im Frühjahr 1945 an ihren ehemaligen Peinigern rächten und mit Plünderungen ihr Überleben sicherten.

Ein Kontrast zu dieser Grausamkeit waren jene Menschen aus Mülheim, die den Zwangsarbeitern, trotz eines strengen Verbotes, immer wieder Kleidung und Lebensmittel zukommen ließen. Zu einem Sinnbild für die Menschlichkeit in Zeiten der staatlich verordneten Unmenschlichkeit wurde die 1903 in Russland geborene, aber seit 1918 in Mülheim lebende Eleonore Helbach. Sie ging als "Russenengel" in die Stadtgeschichte ein, weil sie ihre Dienstverpflichtung als Dolmetscherin als Anwältin und Fürsprecherin der Zwangsarbeiter nutzte. Erst 1997 wurde ihr humanitärer Einsatz mit der Ehrenspange der Stadt Mülheim an der Ruhr gewürdigt, 2001 ist sie in Broich gestorben. Ihre Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren 1942 bis 1945 hat der Mülheimer Geschichtsverein 2003 postum in einem Buch über die Zwangsarbeit in Mülheim an der Ruhr herausgegeben. Seit dem Jahr 2000 haben sich zwölf Mülheimer Unternehmen mit Zahlungen an der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) beteiligt, darunter auch Unternehmen, die gar keine Zwangsarbeiter beschäftigt hatten.

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Freitag, 9. Mai 2025

Habemus Papam

Auf Franziskus folgt also Leo XIV. Nach seiner ersten Rede auf der Loggia des Petersdoms sieht Mülheims Stadtdechant Michael Janßen den neuen Papst als "totalen Kontrapunkt zu Donald Trump. Mit seiner Namenswahl knüpft der in den USA geborene und durch seine Arbeit in Peru geprägte Augustinermönch Robert Francis Prevost als Leo XIV. an Leo XIII. an, der 1891 mit seiner Sozialenzyklika "Rerum Novarum" als Arbeiterpapst und als Begründer der katholischen Soziallehre in die Geschichte eingegangen ist. Auch in Mülheim hintierlie8 Leo XIII. Spuren. Für die damals mithilfe des katholischen Industriellen August Thyssen im Arbeiterstadtteil Styrum  errichtete Kirche St. Mariae Rosenkranz stiftete er im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einen bis heute existenten Seitenaltar.

Die ersten Botschaften seines Namensnachfolgers sind klar: Leo XIV spricht vom Frieden, davon Brücken bauen zu wollen und explizit auch von der Fortsetzung des synodalen Prozesses in der Katholischen Kirche. Nicht nur das lässt den Stadechanten hoffen. Er sieht in Leo XIV. einen Papst, "der in die Fußstapfen von Papst Franziskus treten", aber nicht: "dessen Kopie sein wird". Michael Janssen erkennt bei Leo XIV. das charismatische, lebenserfahrene und kommunikative Potenzial, dass notwendig sei, um als Papst "zur Stimme der Menschheit und der Menschlichkeit zu werden."

Samstag, 19. April 2025

Vom Krieg zum Frieden

Was der 8. Mai 1945 für Deutschland, dass war der 11. April 1945. An diesem Tag endeten mit dem Einmarsch amerikanischer Soldaten der Zweite Weltkrieg und die NS-Diktatur. 

Für die beiden Volkssturmmänner, die sich an diesem Frühlingstag am Dickswall ein letztes sinnloses Feuergefecht mit den US-Truppen lieferten und dabei getötet und verletzt wurden, war es ein Tag der Niederlage und des Zusammenbruchs.

Für den Unteroffizier Rudolf Steuer und den jüdischen Schlachter Julius Levy war der 11. April 1945 ein Tag des Überlebens und der Befreiung.

Steuer, der an diesem Tag 43 Jahre alt wurde und von GIs in Kriegsgefangenschaft genommen wurde, stand kurz vor seiner standrechtlichen Erschießung, weil er, wohl wisssend um die Versorgungsleitungen unter der Schloßbrücke, die ihm schon am 27. März 1945 befohlene Sprengung der letzten intakten Ruhrbrücke Mülheims verschleppt hatte.

Die Stadtverwaltung unterstützte Steuer in seinem Ungehorsam, weil sie wusste, welche verheerende Katastrophe die Sprengung dieser 1910 erbauten Brücke bedeuten würde. Deshalb unterstützte die Stadt an der Ruhr Steuer auch, als er 1947 sein kriegszerstörtes Haus in Merzig an der Saar wieder aufbauen musste.

Eigentlich wollten die an der Wilhelminenstraße vorrückenden US-Soldaten Julius Levy festnehmen, als sie ihn am 11. Apberzeugten die ril dort in einer Wehrmachtsuniform antrafen. Doch Levys evangelische Ehefrau und seine Nachbarn überzeugten die erst verblüfften und dann begeisterten GIs, von Levys wahrer Identität.

Denn anders, als seine 270 Mülheimer deportierten und ermordeten Glaubensgeschwister hatte der jüdische Schlachter Julius Levy, der bis 1938 im Mülheimer Schlachthof gearbeitet hatte, den Holocaust überlebt. Denn seine Frau hatte ihn in eine Wehrmachtsuniform gesteckt und ihn so in einem Küchenschrank versteckt, wenn die gemeinsame Wohnung an der Wilhelminenstraße durchsucht wurde. Frau Levy versicherte der Geheimen Staatspolizei immer wieder, ihr Mann sei längst deportiert worden. 

Die Nachbarn der Levs wussten um deren Geheimnis, behielten ihr Wissen aber für sich. So wurde das Kriegsende für sie und ihren jüdischen  Nachbarn zu einem Happyend, das am 11. April mit einem Straßenfest gefeiert wurde, bei dem die GIs mit ihrem Proviant für das leibliche Wohl der Menschen sorgten, die in Zeiten der staatlich verordneten Unmenschlichkeit menschlich geblieben waren.   

Sonntag, 23. März 2025

Kultur macht stark

 Ist Kultur Luxus oder ein Lebensmittel, wie es einst Bundespräsident Johannes Rau formuliert hat? Letzteres haben jetzt die jahrgangsübergreifende Musical-Klasse der Gesamtschule Saarn und die drei Mülheimer Familienkonzerte unter Beweis gestellt. 

Letztere bringen die Musikpädagogin Ulrike Schwanse und Anja Schöne vom Stadttheater Hagen seit 2005 auch in der Mülheimer Stadthalle auf die Bühne. Mit von der musikalischen Partie waren diesmal bei Sergej Prokovejevs sinfonischer Dichtung "Peter und der Wolf" wieder Mülheimer Grundschüler aus acht Mülheimer Grundschulen, die Musiker des Münsteraner Studentenorchesters und die Schauspieler Julian Karow (als Wolf) und Gabriel Schunck (als Ente). "Wir wollen Kindern und ihren Eltern und Großeltern unser reiches musikalisches Erbe vermitteln und damit ein Kontrastprogramm für die Generation Smartphone auf die Bühne bringen", erklärt Ulrike Schwanse  das Ziel der von ihr moderierten und von Anja Schöne inszenierte Familienkonzerte. Mission gelungen, kann bestätigen, wer die jüngsten Familienkonzerte im Theatersaal der Stadthalle miterlebt hat. Nach dem letzten Akkord blieb der Eindruck, dass die gut komponierte Inszenierung mit Musik, Moderation, Musikerinterviews, gespielten Szenen, gemalten Bildern auch so manchen "normalen" klassischen Konzerten guttäte und vielleicht ein ungeahnt zahlreiches Publikum bescheren würde. 

Genauso lange währt nun auch schon die Erfolgsgeschichte der Schülermusicals, die von jeweils mehr als 100 Jugendlichen in der Regie der beiden Pädagogen Sebastian Klein und Stephanie von der Marwitz, an der Gesamtschule in Saarn, diesmal in einer nagelneuen Aula auf die Bühne gebracht werden.

Zuletzt wurde mit der Produktion "School of Rock" die Geschichte einer amerikanischen Highschool-Klasse, die von einem gescheiterten Rockmusiker, der sich an ihrer Schule als vermeintlicher Hilfslehrer eingeschlichen hat und die Klasse, unter den argwöhnischen Blicken seiner neidischen Kollegen, bei einer Battle of the Bands zu musikalischen Höchstleistungen motivierte.

Kein Wunder, dass der Musical-Nachwuchs von der Gesamtschule Saarn sich "zu 90 Prozent" mit seinen Rollen in der kurzweiligen 55-Minuten-Musical-Show identifizieren kann. Aussagen, wie diese: "Man muss sich im Leben etwas trauen und sich auch mal einen Schubs geben lassen!" oder: "Lehrende müssen sich das innere Kind bewahren, um den Spaß an ihrer pädagogischen Arbeit nicht zu verlieren", zeigen, wie reflektiert die 12- bis 19-Jährigen ihre Rollen gespielt und ausgefüllt  haben.

Mehr über die Gesamtschule Saarn lesen Sie hier und mehr über die Familienkonzerte lesen Sie hier

Sonntag, 16. März 2025

Eine Klasse für sich

 Als sie hier gemeinsam zur Schule gingen, war die vom damaligen Baudezernenten Arthur Brocke entworfene und 1929 eröffnete Realschule Stadtmitte eine Schule, die aus zwei Schulen bestand. Die 14 Klassenkameraden, die sich jetzt 60 Jahre nach ihrem Schulabgang mit der Mittleren Reife an der Oberstraße wiedersahen, erinnerten an eine strenge Trennung der Mädchen- und Jungen-Realschule. "Wir waren an der Jungenschule rund 600 Schüler. "Leider mussten fünf Klassenkammeraden aus gesundheitlichen Gründen ihre Teilnahme an unserem inzwischen vierten Klassentreffen absagen. Und sechs Klassenkameraden sind inzwischen verstorben", bedauert Dieter Schweers, der das Wiedersehen der ehemaligen Realschüler organisiert hat.

Eine Schule fürs Leben

Anders, als das Gymnasium war die Realschule, an der man schon damals etwas für das Leben lernen konnte", erinnern sich die 14 Herren, die inzwischen zur Generation 75 Plus gehören. "Von einer solchen Ausstattung konnten wir damals nur träumen", sagen die Jungen Herren von Gestern, wenn sie sich bei ihrer Schulführung von Rektorin Sabine Dilbat erklären lassen, wie und warum das interaktive elektronische Activeboard die gute alte Tafel, auf der die Kreide unvergesslich kratzte, im Zeitalter der Digitalisierung, ersetzt hat.

Kaum zu glauben, dass die Realschulabsolventen, die 1965 ihr Abschlusszeugnis aus der Hand des strengen Direktors Walkowski erhielten, der stets dafür sorgte, dass seine Jungs den Schülerinnen von der benachbarten Mädchenrealschule nie zu nahekamen, noch ohne einen Anflug von Computer in ihr Berufsleben als Kaufleute, Handwerker, Verwaltungsbeamte, Bankkaufleute, Chemiker und Pädagogen in ihr Berufsleben starteten, das sie inzwischen alle erfolgreich hinter sich gebracht haben.

Nach der Schule ging das Lernen weiter

Dr. Wolfgang Bourguignon, einer von zwei ehemaligen Realschülern, die im Laufe ihrer späteren Bildungsbiografie zunächst aufs Gymnasium wechselten, um als Quereinsteiger ihr Abitur zu machen und anschließend an einer Hochschule, zum Beispiel Chemie und Pädagogik zu studieren, ist etwas verlegen, als ihn sein ehemaliger Mitschüler Dieter Schweers mit den Worten: "Du warst unser Klassenbester", begrüßt. "Ich hatte nur mit Latein Probleme, weil das für mich völlig neu war", erinnert sich Wolfgang Bourguignon an seinen Wechsel von der Realschule Stadtmitte in die Oberstufe des Oberhausener Novalis-Gymnasiums, an dem er später auch als Lehrer unterrichten sollte.

Neben dem Mülheimer Entertainer und Jazzmusiker Helge Schneider und dem ehemaligen Kulturdezernenten Hans-Theo Horn dürfte auch der ehemalige städtische Amtsleiter für die Fachbereiche Jugend, Kinder und Schule, Dieter Schweers, zu den in Mülheim bekanntesten Ehemaligen der Realschule Stadtmitte gehören. "Wir hatten damals keinen einzigen ausländischen Mitschüler in unserer Klasse und wir kannten bei unserem Start ins Berufsleben, der für viele von uns über den Besuch der Höhren Handelsschule Schwenzer führte, keine Zukunftsangst", erinnert sich Schweers an den Abschluss-Jahrgang 1965, der noch in einen Arbeitsmarkt eintreten konnte, auf dem, des kriselnden Kohlebergbaus, noch Vollbeschäftigung herrschte. 

Ohne Frauen geht es nicht

In dem Jahr 1965, in dem Dieter Schweers und seine insgesamt 31 Mitschüler, ihr Schulleben beendeten, begannen Mädchen und Jungen im damals neugegründeten Gymnasium Broich als erste Mülheimer Schülergeneration einen koedukativen Schulalltag, der in der Realschule Stadtmitte, die heute von 830 Kindern und Jugendlichen besucht wird, erst in den frühen 1970er Jahren einziehen sollte.

Bildungsgeschichtlich zeigt eine Langzeitbetrachtung des Landes Nordrhein-Westfalen, dass die Realschule in einer sich stark wandelnden Schullandschaft mit einem Schüleranteil von rund 20 Prozent im Vergleich zu anderen Schulformen sehr stabil geblieben ist, was zeigt, dass ihre lebens- und berufsnahe Pädagogik bis heute gesellschaftlich anerkannt wird.

Mittwoch, 5. März 2025

Eine Überlebensfrage

 Auch wenn der Klimaschutz, wie es Akademiedozent Mark Radtke, anmoderiert, "nicht unter den Top 5 der Themen im Bundestagswahlkampf" diskutiert, worden ist, macht Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck bei der Jahresveranstaltung seines Rates für Ökologie und Nachhaltigkeit deutlich, dass der Klima- und Umweltschutz für die Menschheit eine existenzielle Zukunftsfrage darstellt. "Die drohenden Klimaverschiebungen werden zu neuen Migrationswellen führen", warnt Overbeck. Der Bischof räumt ein, "dass wir als Bistum Essen bei unserem energietechnischem Gebäudemanagement weniger tun, als wir tun müssten, weil uns dafür der ökonomische Reichtum fehlt." 

Dennoch sieht Overbeck die Kirche als Akteurin, wenn es um eine notwendige "Gewissenschulung" in Sachen Umwelt- und Klimaschutz für eine im besten Sinne des Wortes "wertkonservative Bewahrung der Schöpfung"! Für den Vorsitzenden des Bischöflichen Rates für Ökologie und Nachhaltigkeit, Lars Grotewold von der Mercator-Stiftung stellt die aktuelle Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius + X "eine Bedrohung unseres Wohlstandes" dar, Was muss also getan werden? Linda Kastrup vom Aktionsbündnis Fridays for Future fordert die politisch und ökonomisch motivierte "Diffamierung des Klima- und Unweltschutzes" zu beenden und die bestehenden Klimaschutzgesetze "weiter zu verschärfen und den Gas-Ausstieg vorzubereiten."

Der Chefredakteur des Internetportals Klimafakten, Carel Mohn, fordert mit Blick auf die Notwendigkeiten des Klimas- und Umweltschutzes von der neuen Bundesregierung, "die Elektromobilität auszubauen, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen einzuführen" und: "Inlandsflüge in Deutschland zu verbieten."


Zum Veranstaltungsbericht der Katholischen Akademie Die Wolfsburg


Dienstag, 4. März 2025

Tolle Tage

Mülheim ist nicht Köln, wenn es um den Karneval geht, auch wenn die närrische Domstadt einen gleichnamigen Stadtteil hat. Dennoch hat auch der Mölmsche Karneval, in dem eine vergleichsweise kleine Gemeinschaft von 1000 aktiven Karnevalisten, ein Fest der Fünften Jahreszeit in die Säle und auf die Straßen zaubern, etwa am Karnevalssamstag, beim Närrischen Biwak im Forum, beim Rosenkranz-Gemeindekarneval der MüKaGe in Dümpten oder bei der blau-weissen Prunksitzung im Altenhof.

Den Karnevalssamstagabend nutzten Stadtprinz Julien und seine Paginnen Denise und Lisa Marie, um nicht nur bei den offiziellen Karnevalsveranstaltungen, sondern auch in Mülheimer Traditionskneipen vorbei, um für die Teilnahme am Rosenmontagszug zu werben. Besonders groß war das Helau im Rauchfang an der Wallstraße. Dort gab es für die Tollitäten, die vom Mülheimer Chefkarnevalisten Markus Uferkamp begleitet wurden, sogar eine Freibierrunde. Kein Wunder. Gastwirt Claus Kandelhardt, der seine Kultkneipe seit 18 Jahren mit seiner Frau Petra betreibt, ist in der rheinischen Karnevalshochburg Düsseldorf aufgewachsen.

Während sich das "Schräge Eck" im Dichterviertel und der "Landsknecht" in der Altstadt als karnevalistische Entwicklungsgebiete erwiesen, waren Rauchfang Luftschlangen zu sehen und Karnevalsschlager zu hören. Bis weit nach Mitternacht widmete sich Prinz Julien unermüdlich der närrischen Missionsarbeit im Dienste des organisierten Frohsinns.

Nicht missionieren mussten die Tollitäten den 53-jährigen Olaf, den sie beim inklusiven Karneval des VBGS in der Stadthalle kennengelernt hatten. Ihn besuchten sie zur Mittagszeit in seinem Zuhause, dem Hermann-Giese-Haus in Winkhausen. Dort verlieh ihm Pagin Lisa Marie, stellvertretend für die grippeerkrankte Stadtprinzessin Chiara, den Orden des Prinzenpaares. Olaf bedankte sich für den Orden überschwänglich und erwiderte nur zu gern Lisa Maries Bützchen.

Derweil nahm Prinz Julien nur zu gern Olafs Wunsch mit, "einmal im Rosenmontagszug mitzufahren." Der Rosenmontagszug zeigte sich erstaunlich sonnig. Das war gut so. Denn der Zug mit seinen 27 Wagen und 10 Gruppen hatte fast 90 Minuten Verspätung. Grund war eine notwendige Wiederbelebung an der Zugstrecke.

Apropos Gesundheit. Kinderprinz Elias hatte seinen grippalen Infekt, anders, als Stadtprinzessin Chiara, soweit wieder auskuriert und konnte deshalb, hoch auf dem Kinderprinzenwagen, im Rosenmontagszug mitfahren, um Kamelle und Co unter das wartende, und trotz der Zugverspätung, gutgelaunte Narrenvolk zu bringen. Soviel ist allerdings klar. Wenn die vielen Genesungswünsche, die die Tollitäten am Karnevalssamstag und am Rosenmontag, für Stadtprinzessin Chiara mit auf dem Weg durch das Sessionsfinale bekommen haben, wirken, dann wird Prinzessin Chiara ganz schnell wieder gesund. 


Zum Mülheimer Karneval

Freitag, 28. Februar 2025

Närrische Zeit

"Ganz ohne Weiber geht die Chose" nicht! Das weiß man nicht nur in der Operette, sondern auch im Karneval. Deshalb sind es die Frauen, die in der Fünften Jahreszeitvorangehen, wenn es darum geht, in den Straßenkarneval der tollen Tage zu starten. Dazu passte es gut ins Bild, dass die mölmschen Möhnen in dieser Weiberfastnacht, die im Ruhrpott uncharmant "Altweiber" genannt wird, als Flotte Bienen den Oberbürgermeister kostümtechnisch zum Gärtner machten, um ihm dann eine Palette mit Blumentöpfen in die Hand zu drücken, auf dass er die betonlastige Schlossstraße begrüne.

"Wir werden genau überprüfen, was uns da demnächst blüht und sprießt", versicherte Obermöhne Elli Schott von der Röhrengarde. Obwohl Verwaltungschef, musste Oberbürgermeister Marc Buchholz im Wettstreit mit den Tollitäten Julien und Elias traditionsgemäß den Kürzeren ziehen. Beim Aktenweitwurf, beim Büroslalom sowie beim Heften und Stempeln hatten die närrischen Regenten aus den Reihen des Mülheimer Carnevalsclubs und der Prinzengarde Rote Funken die Nase vorn. "Das ist gar nicht so leicht, wenn man alles alleine machen muss und keine Mitarbeiter zur Hand hat", spottete Elli Schott nach der Niederlage des Oberbürgermeisters. 

Der karnevalstrainierte OB nahm seinen Machtverlust gelassen und betonte in seiner Abdankungsrede die soziale Bedeutung, die der Karneval hat, indem er Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Generationen zusammenbringt. Dankbar zeigte er sich vor allem dafür, "dass ich in diesem Jahr nicht wieder als sparsamer Schotte auftreten muss, nachdem das Land die Altschuldenregelung umsetzen will". 

Schlicht und effektvoll setzte die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Michaela Rosenbaum, mit ihrem Kostüm ein politisches Zeichen. Ihre Brillengläser bestanden aus Friedenszeichen und um den Hals trug sie ein Hinweisschild mit der Aufschrift: "Heute ist offene Gesellschaft!" Deshalb steuerte auch ein Kamerateam der WDR-Lokalzeit gleich auf sie zu, um von ihr zu erfahren, ob islamistische Anschlagsdrohungen auf Karnevalsveranstaltungen ihre Lust am Karnevalfeiern beeinträchtigen. Für Rosenbaum steht fest: "Wir dürfen uns als freie Gesellschaft von solchen Drohungen nicht einschüchtern lassen, denn das ist genau das, was die Fanatiker wollen." Ein politisches Zeichen ganz anderer Art setzte der als Dr. Party verkleidete Arzt und SPD-Landtagsabgeordnete Rodion Bakum mit seinem Pflasterpack, das er unter den Möhnen und ihrem Gefolge verteilte. Neben einer Narrenkappe war dort zu lesen: "Kleine Wunden heilen schnell, der Pflegenotstand nicht. Und sein Mitarbeiter Felix Hesse war ja als Friedrich Merz zum Rathaussturm der Möhnen erschienen, um mit seinem "Black-Rock-Koffer" anzudeuten, dass die im Bund anstehenden Koalitionsverhandlungen nicht nur lustig werden. 


Mehr über den Mülheimer Karneval

Dienstag, 25. Februar 2025

Märchenhafte Wahl

 Märchenerzähler gehören eigentlich nicht in die Politik. Und doch wissen wir, dass sie es manchmal bis in höchste politische Ämter schaffen, weil die Menschen gerade in schwierigen Situationen gerne an Märchen glauben wollen.

Ausgerechnet Mülheims erster gewählter Abgeordneter, der die Stadt in der Frankfurter Paulskirche und damit in der ersten deutschen Nationalversammlung vertrat, die versuchte eine liberale Verfassung und Kraft zu setzen und damit unglücklicherweise scheiterte, war ein Märchenerzähler. Allerdings gehörte der Germanist Jakob Grimm, der nicht aus dem Ruhrgebiet sondern aus Hessen stammte, zu den respektablen Vertretern . Zu seiner Zunft. Mit seinem Bruder Wilhelm gehörte er zu den deutschen Hochschullehrern, die teil einer liberalen und nationalen Verfassungsbewegung in Deutschland waren, als die Monarchen des Deutschen Bundes, völlig unzeitgemäß noch darauf pochten nicht von Volkes sondern von Gottes Gnaden auf ihren Thron berufen zu sein.

Im Mai 1848, als mit dem Wächter an der Ruhr, auch eine liberale politische Zeitung in Mülheim erschien, kam es auch in Mülheim zur ersten Parlamentswahl. Wahlberechtigt waren allerdings nur alle Männer ab 25 Jahren, die wiederum Wahlmänner bewältigen, die dann wieder ihrerseits jenen Jakob Grimm als Abgeordneten für Mülheim und essen in die Frankfurter Nationalversammlung entsandten. Das indirekte Wahlrecht, wie wir es heute noch in seiner überkommenen Form in den USA kennen, sprach dafür, dass auch das reformbereite liberale Bürgerzentrum dem demokratischen Mehrheitsprinzip misstraute.

Obwohl Jakob Grimm zu den Prominenten paulskirche Parlamentariern gehörte und als Vordenker eines liberalen Rechtsstaates im Rahmen einer Monarchie in der ersten Reihe der Frankfurter Nationalversammlung saß, gab er aber sich doch schon im Oktober 1848 desillusioniert seinen Platz im Parlament wieder auf und zog sich aus dem verfassungsgebenden Prozess zurück, weil das scheitern der bürgerlichen Revolution voraussah, dass dann aufgrund der reaktionäre n, Politik des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. voraussah.

Das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich verharmloste die bürgerliche Revolution verharmloste. Nur weniger liberale Zeitgenosse die Tragik der 1848/1849 versäumte Chance, einer demokratischen transformieren Monarchie, die uns dass persönliche Regiment eines Wilhelm II. erspart hätte und mit ihm den ersten Weltkrieg und dessen bekannten Folgen erspart hätte.

Montag, 24. Februar 2025

Hört bei der Politik der Spaß auf?

Den mächtigen den Spiegel vorhalten. Das war von jeher ein Kern des Karnevals. Doch in den letzten Jahren ist die Zunft der politischen Büttenredner nicht nur im Mülheimer Karneval rar geworden.

Insofern ist auch Jürgen Wisniewski als Hoppeditz der Karnevalsgesellschaft Blau-Weiß eine Ausnahmeerscheinung. Er hat sich sehr kurzfristig für diese Session als Büttenredner gewinnen lassen und es nicht bereut. Warum tut sich das Publikum heute so schwer mit politischen Bütten reden?"

Viele Menschen sind müde. Ihre Konzentrationsfähigkeit hat abgenommen. Das Leben ist anstrengender geworden. Viele Menschen müssen sich mit mehreren Jobs über Wasser halten. Da wollen viele nur noch abschalten feiern tanzen und Musik hören und nicht mehr über Politik nachdenken", meint Wisniewski. Er selbst hat in dieser Session nicht nur Mülheims Oberbürgermeister Marc Buchholz und die bescheidenen Straßenverhältnisse in Mülheim, die desolate Situation der Innenstadt und das aus der Ampelkoalition sondern auch der neu gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump aufs Korn genommen.

"Jemand wie Trump, der einen Tick hat und damit angreifbar ist, ist natürlich für einen Büttenredner ein gefundenes Fressen", sagt der 57-Jährige Ingenieur. Natürlich muss ein Büttenredner die Zeitung lesen egal in welcher Form, um die Themen zu finden, die er aufs Korn nehmen kann. Mein Kostüm als Hoppeditz dass mir ein syrischer Schneider in Mülheim in nur 14 Tagen genäht hat, hilft mir bei meinen Auftritten als karnevalistische Kunstfigur. Es stärkt mir den Rücken und beflügelt mich", sagt der fröhliche und mit heiterem Ernst ausgestattete Familienvater. 

Für ihn, der in der Session 2017/2018 auch schon mal als Stadtprinz auf der Bühne stand und heute das Amt des Senatspräsidenten der KG Blau-Weiss bekleidet, steht fest: "Ein Büttenredner packt sich immer die Starken, nie die Schwachen." Dabei hält es Wisniewski für kontraproduktiv: "sich an einem Thema fest zu fressen oder gar im parteipolitischen Sinne Partei zu ergreifen." Seine Methode in der Bütt ist es: "über die politische Landschaft hinweg zu fliegen und die Themen nur anzuticken und anzuspielen." Natürlich muss jeder sein Fett wegbekommen Punkt und das gilt auch für die Anekdoten über die erste Reihe der eigenen Karnevalsgesellschaft. 

Obwohl auch Oberbürgermeister Marc Buchholz vom Hoppeditz sein Fett wegbekommen, lobte er diesen doch ausdrücklich und begrüßt es, dass Jürgen Wisniewski zu den wenigen seiner Zunft gehört, die daran arbeiten die Tradition der politischen Büttenrede wieder zu beleben. Es lohnt sich gerade heute, hat diese Zunft und diese Kunst doch so unvergessene und Maßstäbe setzende Persönlichkeiten wie die Kölner Karl Küpper, der als "Der Verdötschte" sogar den Nationalsozialisten trotzte, und Toni Geller als "Redner der Blauen Partei" hervorgebracht, die zurecht bis heute für ihren närrischen Wortwitz legendär sind.


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