Donnerstag, 27. April 2023

Was die Arbeiter auf die Barrikaden brachte

 Die Stadthalle gehört zu den repräsentativsten Gebäuden der Stadt. Von den Architekten Hans Grossmann und Artur Pfeifer entworfen, erinnert ihre Architektur an einen venezianischen Palazzo. Das brachte Mülheim einst den Ruf eines Ruhrvenedigs ein. Doch vor 100 Jahren begann der Bau der Stadthalle unter turbulenten Vorzeichen.

Denn der lange geplante Bau der Stadthalle war im Inflationsjahr 1923 eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die die Stadt mit selbstgedrucktem Notgeld bezahlte, weil die Reichsmark nichts mehr wert war. Nicht nur an dieser prominenten Baustelle wurden damals sogenannte Notstandsarbeiter beschäftigt. Die Idee dazu hatte der damalige Oberbürgermeister Paul Lembke, der damit möglichst billig ein Prestigeprojekt realisieren und zeitgleich Erwerbslose von der Straße holen wollte.

Gute Idee. Doch die Rahmenbedingungen für den Baustart waren vor 100 Jahren denkbar schlecht. Die Preise stiegen rasant, das Lohnniveau sank ebenso rasant, nämlich um 60 Prozent im Vergleich zu 1914. Außerdem war Mülheim von französischen und belgischen Truppen besetzt. Die sollten dafür sorgen, dass Deutschland mit seinen Kohlelieferungen nach Frankreich und Belgien seinen Reparationsverpflichtungen nachkam, die es als Verlierer des Ersten Weltkrieges auf der Grundlage des Versailler Friedensvertrages von 1919 zu tragen hatte.

Hinzu kam: Die französische Militärregierung, die auch im Rathaus Quartier bezogen hatte, wies im März 1923 alle Polizeibeamten als potenzielle Waffenträger aus dem besetzten Ruhrgebiet aus. Es kam, wie es kommen musste. Die Kriminalität stieg sprunghaft an. Geschäftsleute und Gastwirte stellten eine Bürgerwehr auf, um sich gegen plündernde Banden zu wehren. Am 18. April zogen einige 100 Notstandsarbeiter, bewaffnet mit Spitzhacken und gestohlenen Jagdgewehren zum Rathaus. Sie verlangten eine Lohnerhöhung und Abschaffung der Akkordarbeit auf den städtischen Baustellen. Als das vom Oberbürgermeister abgelehnt wurde, stürmten einige der Notstandsarbeiter das Rathaus, wobei unter anderem die Turmtür an der Hindenburgstraße, die wir heute als Friedrich-Ebert-Straße kennen, zu Bruch ging. Gleichzeitig warfen sie mit Steinen, die sie aus dem Straßenpflaster herausgebrochen hatten, etliche Rathausfenster ein. Doch die Gegenwehr aus dem Rathaus, die mit Wasserschläuchen und Schusswaffen, die Angreifer auf Distanz hielten war unerwartet stark.

Die Kämpfe um das Rathaus, die alle Geschäfte in der Innenstadt zur Schließung zwangen, zogen sich über zwei Tage hin und forderten am Ende sechs Tote und 50 Verletzte. Diese „Mülheimer Vorkommnisse“, die in der Presse als „Arbeitertumulte“ bezeichnet worden, die vor allem „von alten Bekannten der Kriminalpolizei“ angezettelt worden seien, beschäftigten sogar Reichstag und Reichsregierung.

Das die Rathausverteidiger, die in der Zeitung als „Schutzwache beherzter Männer“ bezeichnet wurden, am Ende die Oberhand behielten und 50 Rädelsführer des Arbeiteraufstandes wegen „schweren Landfriedensbruchs „verhaften konnten, hatte gute Gründe. Denn Oberbürgermeister Paul Lembke hatte etliche ausgewiesene Polizeibeamte als Mitarbeiter der Stadtverwaltung unter dem Radar der französischen Militärregierung eingestellt und damit eine schlagkräftige Sicherheitsreserve geschaffen.

Als die am Stadthallenbau beteiligten Arbeiter im Dezember 1925 die ersten eintrittsfreien Konzertgäste in der von ihnen gerade fertiggestellten Stadthalle waren, sprach die Lokalpresse „vom demokratischsten Konzert, dass es je gegeben“ habe. Die sogenannten „Arbeitertumulte“ im April 1923 waren da nur noch eine Episode der Mülheimer Stadtgeschichte.


Mülheimer Presse

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