30 Neuntklässler hören drei Stunden lang aufmerksam zu und stellen gezielt Fragen. Das mag so manche Lehrkraft angesichts ihrer Unterrichtserfahrungen nicht glauben. Und doch war es jetzt genau so, als der 88-jährige Hans von Frankenberg den 14- und 15-jährigen Schülern an seiner alten Schule, dem heutigen Otto-Pankok-Gymnasium aus seinen Kinder- und Jugendjahren im Mülheim und im Gotha der Kriegs- und Nachkriegszeit berichtet.
Es ist eine harte Kost, die er sich und seinen jungen
Zuhörern zumutet. Aber die authentische und warmherzige Art, in der er über
seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse berichtet, fordert die Jugendlichen,
ohne sie zu überfordern. „Danke, dass Sie so offen mit uns gesprochen und auch
ihre schmerzlichen Erinnerungen mit uns geteilt haben“, sagt eine Schülerin
nach dem Zeitzeugengespräch mit dem Mann, der vor 70 Jahren dort gesessen hat,
wo sie heute sitzen und für ihr Leben lernen. Einer ihrer Mitschüler sagt: „Ihr
Lebensgeschichte zeigt mir, wie gut es uns heute geht und das wir alles dafür
tun müssen, dass unser Land nicht wieder in einen Krieg versetzt wird.“
Nach einer unbeschwerten Kindheit in einem am Kahlenberg
gelegen großbürgerlichen Elternhaus, der Vater war technischer Direktor der
Friedrich-Wilhelms-Hütte und damit Teil von Hitlers Rüstungsproduktion, brach
der Krieg mit all seiner Brutalität in die heile Welt des bis dahin gut
behüteten Jungen hinein. Der Vater kam 1940 bei einem dubiosen Autounfall ums
Leben, nachdem er sich gegen einen Zweifronten-Krieg mit der Sowjetunion und
den USA ausgesprochen hatte,
Hans musste während des Krieges unter anderem
Klassenkameraden identifizieren, die bei einem Luftangriff getötet worden
waren. Er musste einen Todesmarsch von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen mit
ansehen, bei denen entkräftete Menschen vor seinen Augen erschossen wurden.
Nach dem Krieg musste seine Mutter, er und der vier Jahre ältere Bruder
Albrecht das Elternhaus am Kahlenberg für zehn Jahre verlassen und bei fremden
Menschen Unterschlupf suchen, weil dort bis 1955 eine britische
Offiziersfamilie einquartiert wurde.
Hans und seine Familie mussten sich nach dem Krieg mit
Lebensmittelmarken und 1000 Kalorien pro Tag und Person von einem Care-Paket
zum nächsten und von einer Schulspeisung zur nächsten hungern. „Unser
Henkelmann war für uns wichtiger als unser Tornister“, sagt Frankenberg über
seine traumatisierte Schüler-Generation, die von ebenfalls
kriegstraumatisierten Lehrern unterrichtet wurden, die den Kindern viel über
ihre Kriegserlebnisse, aber nichts über ihre Mitverantwortung und ihre
Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus erzählten.
Wie nachhaltig die Verbrechen des NS-Regimes und Hitlers
Eroberungskrieg das Ansehen Deutschlands zerstört hatten, merkten Hans und ein
Freund, als sie wenige Jahre nach Kriegsende, eine Radtour durch die
Niederlande abbrechen mussten, weil ihnen dort niemand ein Stück Brot,
geschweige denn noch etwas anderes verkaufen wollte.
Auch die „seelische und körperliche Demütigung durch einen
britischen Offizier, der mich brutal vergewaltigte“, war eine Folge dessen, was
Hitler und seine viel zu vielen Helfershelfer 1933 und 1939 begonnen hatten. Schnell
erkannten die Otto-Pankok-Schüler, die derzeit im Religions- und
Philosophie-Unterricht die NS-Zeit besprechen, Parallelen zum aktuellen
Kriegsgeschehen in der Ukraine. Die sieht natürlich auch Hans von Frankenberg,
der seine jungen Zuhörer wissen ließ: „Dass das, was meine Generation und ich
vor 77 Jahren erleben mussten, heute wieder in der Ukraine geschieht, ist mir
unerträglich.“
Die 30 Otto-Pankok-Schüler und ihre Lehrerinnen Kerstin Hahn,
Anna Jatzkowski und Stefan Reinartz waren sich nach ihrer Begegnung und nach
ihrem Austausch einig: „Was Herr von Frankenberg erlebt und erlitten hat, macht
und dankbar und demütig. Es zeigt anschaulicher und authentischer, welche
Folgen Diktatur und Krieg für Menschen haben, als es ein Geschichtsbuch oder
ein Geschichtsunterricht überhaupt leisten könnte.“
Hans von Frankenberg schickte seine jungen Zuhörer und
Gesprächspartner mit einem guten Rat nach Hause; „Bewahrt euch eure schönen
Kindheitserinnerungen und nehmt sie mit in euer Erwachsenenleben. Bewahrt euch
die Fähigkeit, auch in schweren Zeiten des Lebens das Schöne zu sehen und zu
erkennen, dass sich im Leben immer wieder ein neues Tor auftut, durch das man
weitergehen kann, egal, was auch geschieht.“
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