Donnerstag, 12. Mai 2022

Vom Überleben des Herzenz

 30 Neuntklässler hören drei Stunden lang aufmerksam zu und stellen gezielt Fragen. Das mag so manche Lehrkraft angesichts ihrer Unterrichtserfahrungen nicht glauben. Und doch war es jetzt genau so, als der 88-jährige Hans von Frankenberg den 14- und 15-jährigen Schülern an seiner alten Schule, dem heutigen Otto-Pankok-Gymnasium aus seinen Kinder- und Jugendjahren im Mülheim und im Gotha der Kriegs- und Nachkriegszeit berichtet.

Es ist eine harte Kost, die er sich und seinen jungen Zuhörern zumutet. Aber die authentische und warmherzige Art, in der er über seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse berichtet, fordert die Jugendlichen, ohne sie zu überfordern. „Danke, dass Sie so offen mit uns gesprochen und auch ihre schmerzlichen Erinnerungen mit uns geteilt haben“, sagt eine Schülerin nach dem Zeitzeugengespräch mit dem Mann, der vor 70 Jahren dort gesessen hat, wo sie heute sitzen und für ihr Leben lernen. Einer ihrer Mitschüler sagt: „Ihr Lebensgeschichte zeigt mir, wie gut es uns heute geht und das wir alles dafür tun müssen, dass unser Land nicht wieder in einen Krieg versetzt wird.“

 Wenn man Hans von Frankenberg zuhört, wie er seine Jugend im Nazi-Deutschland und den schweren Nachkriegsjahren des Hungers und des Wiederaufbaus berichtet und aus seiner Autobiografie: „Vom Überleben des Herzens“ vorliest, merkt man schnell, dass er eine Lebensgeschichte wachruft, die sich kein Filmregisseur und kein Drehbuchautor so hätte ausdenken können.

Nach einer unbeschwerten Kindheit in einem am Kahlenberg gelegen großbürgerlichen Elternhaus, der Vater war technischer Direktor der Friedrich-Wilhelms-Hütte und damit Teil von Hitlers Rüstungsproduktion, brach der Krieg mit all seiner Brutalität in die heile Welt des bis dahin gut behüteten Jungen hinein. Der Vater kam 1940 bei einem dubiosen Autounfall ums Leben, nachdem er sich gegen einen Zweifronten-Krieg mit der Sowjetunion und den USA ausgesprochen hatte,

Hans musste während des Krieges unter anderem Klassenkameraden identifizieren, die bei einem Luftangriff getötet worden waren. Er musste einen Todesmarsch von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen mit ansehen, bei denen entkräftete Menschen vor seinen Augen erschossen wurden. Nach dem Krieg musste seine Mutter, er und der vier Jahre ältere Bruder Albrecht das Elternhaus am Kahlenberg für zehn Jahre verlassen und bei fremden Menschen Unterschlupf suchen, weil dort bis 1955 eine britische Offiziersfamilie einquartiert wurde.

Hans und seine Familie mussten sich nach dem Krieg mit Lebensmittelmarken und 1000 Kalorien pro Tag und Person von einem Care-Paket zum nächsten und von einer Schulspeisung zur nächsten hungern. „Unser Henkelmann war für uns wichtiger als unser Tornister“, sagt Frankenberg über seine traumatisierte Schüler-Generation, die von ebenfalls kriegstraumatisierten Lehrern unterrichtet wurden, die den Kindern viel über ihre Kriegserlebnisse, aber nichts über ihre Mitverantwortung und ihre Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus erzählten.

Wie nachhaltig die Verbrechen des NS-Regimes und Hitlers Eroberungskrieg das Ansehen Deutschlands zerstört hatten, merkten Hans und ein Freund, als sie wenige Jahre nach Kriegsende, eine Radtour durch die Niederlande abbrechen mussten, weil ihnen dort niemand ein Stück Brot, geschweige denn noch etwas anderes verkaufen wollte.

Auch die „seelische und körperliche Demütigung durch einen britischen Offizier, der mich brutal vergewaltigte“, war eine Folge dessen, was Hitler und seine viel zu vielen Helfershelfer 1933 und 1939 begonnen hatten. Schnell erkannten die Otto-Pankok-Schüler, die derzeit im Religions- und Philosophie-Unterricht die NS-Zeit besprechen, Parallelen zum aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine. Die sieht natürlich auch Hans von Frankenberg, der seine jungen Zuhörer wissen ließ: „Dass das, was meine Generation und ich vor 77 Jahren erleben mussten, heute wieder in der Ukraine geschieht, ist mir unerträglich.“

Die 30 Otto-Pankok-Schüler und ihre Lehrerinnen Kerstin Hahn, Anna Jatzkowski und Stefan Reinartz waren sich nach ihrer Begegnung und nach ihrem Austausch einig: „Was Herr von Frankenberg erlebt und erlitten hat, macht und dankbar und demütig. Es zeigt anschaulicher und authentischer, welche Folgen Diktatur und Krieg für Menschen haben, als es ein Geschichtsbuch oder ein Geschichtsunterricht überhaupt leisten könnte.“

Hans von Frankenberg schickte seine jungen Zuhörer und Gesprächspartner mit einem guten Rat nach Hause; „Bewahrt euch eure schönen Kindheitserinnerungen und nehmt sie mit in euer Erwachsenenleben. Bewahrt euch die Fähigkeit, auch in schweren Zeiten des Lebens das Schöne zu sehen und zu erkennen, dass sich im Leben immer wieder ein neues Tor auftut, durch das man weitergehen kann, egal, was auch geschieht.“


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