Samstag, 14. Mai 2022

Sag mir, wen du einlädst?

 Hans Werner Nierhaus hat mehreren Schülergenerationen des Otto-Pankok-Gymnasiums die Geschichte nahegebracht und in seinen Büchern die Mülheimer Geschichte(n) der Reformation und der beiden Weltkriege beleuchtet. Am 12. Mai wird er mit seinem eine Ausstellung eröffnen, die bis zum 16. Juni 2022 im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße das Goldene Buch der Stadt präsentieren wird.

Wer mit dem Leiter des Stadtarchivs, Dr. Stefan Pätzold, seinem Stellvertreter, Jens Roepstorff und Hans Werner Nierhaus auf die Bild-und-Text-Tafeln der Ausstellung im Haus der Stadtgeschichte schaut oder mit ihnen im 15 Kilo schweren Goldenen Buch durch dessen Pergamentseiten blättert, bekommt ein Kaleidoskop der Stadtgeschichte von 1914 bis 1999 vor Augen geführt. „Goldene Stadtbücher gab es zuerst im mittelalterlichen Italien, während sie in Deutschland zwischen 1880 und 1930 ihr Blütezeit erlebten“, erklärt Stefan Pätzold.

Im ersten Goldenen Buch Mülheims haben sich nicht nur berühmte und wichtige Gäste der Stadt eingetragen. Bis in die 1950er Jahre bemühte die Stadt auch Kaligraphen, um wichtige Stationen der Stadtgeschichte, wie etwa das Kriegsende 1945 und den nachfolgenden Wiederaufbau in kunstvolle Wortbild zu setzen. Apropos Schriftbild: Was beim Blättern im Goldenen Buch auffällt, ist die Tatsache, dass Schriftbild der Einträge mit voranschreitender Zeit immer laissez-fairer wird. Dem Übergang vom Füllfederhalter zum Kugelschreiber sei (Un)dank. Der kaligrafisch auffälligste Eintrag ist zweifellos der des Gouverneurs der japanischen Region Nagasaki, Isamu Takada, den die Wirtschaftsförderung im Dezember 1992 auch nach Mülheim führte.

Fangen wir ganz vorne an. Das 1914 vom Webereibesitzer Karl Roesch gestiftete Goldene Buch der Stadt macht mit einem vergoldeten Buchdeckel aus Silber seinem Namen schon auf den ersten Blick alle Ehre. Reliefs erzählen Mülheims Wirtschaftsgeschichte. Das Panorama der Gewerke reicht vom Kohlenkahn über die Broicher Papiermühle bis hin zum Zechenturm. Doch das zentralste und größte Relief zeigt einen mit Helm und Schwert gerüsteten Mann. Die damals 125.000 Mülheimer leben, wie das kaligrafisch gestaltete Deckblatt, verrät, in „eiserner Zeit“. Der erste Eintrag stammt von einem „Herrn Dietrich“, der einst als unbesoldeter Ehren-Beigeordneter der Stadt gedient hat und jetzt als Oberbürgermeister des sächsischen Nauenburg als Gast in seine alte Heimat zurückkehrt. Deutlich prominenter ist das schon Großadmiral Alfred Tirpitz, der sich im Sommer des letzten Kriegsjahres 1918 ins Goldene Buch einträgt, als er in der Stadthalle Ehrengast einer Tagung der deutsche Gardeverbände teilnimmt und man auch in Mülheim die Kriegspropaganda des im Felde unbesiegten deutschen Heeres glauben will.

Die vielleicht spannendste Geschichte des Goldenen Buches ist die, die man nicht sieht. „1934 gibt es eine fein säuberlich herausgetrennte Seite. Es wird von Zeitzeugen kolportiert und Indizien weisen darauf hin, dass sich hier Adolf Hitler eingetragen hat, als er nicht zum ersten und letzten Mal im Uhlenhorst seinen frühen Förderer, den langjährigen Bergbaumanager, Emil Kirdorf, auf dem Streithof im Uhlenhorst besuchte“, sagt Jens Roepstorff. Und Hans Werner Nierhaus ergänzt: „Gerade die Einträge der Jahre 1933 und 1934 zeigen den politischen Wandel der Zeit. Da trägt sich der Kreisleiter der NSDAP, Karl Kamphausen noch vor dem von den Nationalsozialisten zum Oberbürgermeister gemachten Eisenbahninspektor Wilhelm März ins Goldene Buch ein, wo jetzt auch davon berichtet wird, dass jüdische Unternehmen keine öffentlichen Aufträge mehr bekommen und die Stadtverordneten nicht mehr von ihren Mitbürgern gewählt, sondern vom Regierungspräsidenten ernannt werden.“

Prominenter und erbaulicher sind da schon die Einträge des schwedischen Welt- und Vortragsreisenden Sven Hedin (1936) und des Physik-Nobelpreisträgers, Max Planck, der 1942 in der Stadthalle über „Sinn und Grenzen der exakten Naturwissenschaften“ spricht. Hedin hatte sechs Jahre zuvor an gleicher Stelle über seine Expeditionen nach Zentralasien berichtet. Nach dem Krieg wird Max Planck  zum Namensgeber des vormaligen Kaiser-Wilhelm-Institutes für Kohlenforschung am Kahlenberg. Aus dem Goldenen Buch erfährt man auch, dass der Dirigent Wilhelm Furtwängler im Kriegsjahr 1940 mit Bach, Brahms, Beethoven und den Berliner Philharmonikern in der Stadthalle gastiert hat.

Natürlich trägt sich auch der dortige Institutsdirektor Prof. Dr. Karl Ziegler 1963 nach der Verleihung des Chemie-Nobelpreises und der Mülheimer Ehrenbürgerschaft ins Goldene Buch der Stadt ein. Ein Foto der Ausstellung zeigt ihn, mit dem damaligen Oberbürgermeister, Heinrich Thörne, über das Goldene Buch gebeugt. Ein anderes Foto zeigt den damaligen Regierenden Bürgermeister und späteren Bundeskanzler, Willy Brandt, der sich als Teilnehmer eines kommunalpolitischen Bundeskongresses ins Goldene Buch der Stadt einträgt. Auch ein anderer Bundeskanzler, Ludwig Erhard, hat sich als Wahlkampfreisender im Bundestagswahljahr 1965 in Goldene Buch eingetragen. Davon kann sich der Ausstellungsbesucher aber kein Bild machen, ganz anders, als von dem 1987 in Mülheim zum Goldenen Schlitzohr gekürten Schriftsteller und Schauspieler Sir Peter Ustinov, der Mülheim mit seinem Eintrag, als „eine Stadt mit viel Herzenswärme und vielen Schlitzohren“ beschreibt. Man sieht es in der Ausstellung. Die städtischen Honoratioren, die Ustinov flankieren, haben angesichts seines augenzwinkernden Eintrags gut Lachen haben. Einen ernsten, aber schönen, weil Versöhnung stiftenden Moment hält das Goldene Buch im Oktober 1988 fest. 50 Jahre nach der Reichspogromnacht, in der auch Mülheims Synagoge am Viktoriaplatz, niedergebrannt wurde, besuchen 21 ehemalige jüdische Mülheimer, die nach 1933 vor der nationalsozialistischen Verfolgung in alle Welt fliehen mussten. 43 Jahre nach dem Kriegsende stellt sich Mülheim erstmals dem dunkelsten Kapitel seiner Stadtgeschichte.

Staatsbesuch für Frühaufsteher

Fotografisch festgehalten und im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße 37, prominent ausgestellt, ist auch der vielleicht prominenteste Eintrag im Goldenen Buch, der von Papst Johannes Paul II., der sich am 3. Mai 1987, flankiert von der damaligen Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern, dem damaligen Oberstadtdirektor Heinz Hager und dem damaligen Ruhrbischof Dr. Franz Hengsbach am Flughafen Essen-Mülheim ins Goldene Buch der Stadt eintrug. „Anders als 1984, als Queen Elisabeth II. für einen Besuch bei der Britischen Rheinarmee auf dem Flughafen Essen/Mülheim gelandet war, wollte man es drei Jahre später beim dortigen Zwischenstopp des Papstes, das Goldene Buch der Stadt rechtzeitig zum Flughafen zu bringen“, weiß Archivar Jens Roepstorff zu erzählen. Und er zeigt auch noch einen Artikel dieser Zeitung aus dem September 1960, in dem von „Gästen aus dem Morgenland mit dunkler Hautfarbe“ berichtet wird. Gemeint sind die Spieler des damaligen Hockey-Olympia-Siegers Pakistan, der im damals wiedereröffneten Styrumer Ruhrstadion gegen den deutschen Hockeymeister HTC Uhlenhorst spielte und nicht nur den Fans auf der Straße, sondern auch dem Goldenen Buch der Stadt ein Autogramm gaben. Keine Sportmannschaft, sondern die Regierungsmannschaft des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau, trug sich am 4. September 1984 bei ihrer Mülheimer Kabinettssitzung ins Goldene Buch der Stadt eintrug. Launiger Kommentar des Landesvaters: „So können die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass alle ihre Minister lesen und schreiben können.“ Last, but not least: Die Ehre des letzten Eintrags in das erste Goldene Buch der Stadt gebührte 1999 dem Fotografen und Ruhrpreisträger Lubo Laco. Danach stiftete Tegelmann-Chef Erivan Haub das zweite Goldene Buch der Stadt und eröffnete es mit seinem Eintrag.


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