Eigentlich sollte Lena Gorelik schon im Dezember aus ihrem Roman „Wer wir sind“ lesen. Doch Corona kam dazwischen. Jetzt wurde die Lesung der deutschsprachigen Autorin mit russisch-jüdischen Wurzeln unfreiwillig aktuell. Putins Krieg gegen die Ruine kam dazwischen.
Die
41-jährige Schriftstellerin und Journalistin gab dem moralischen Dilemma, in
das der russische Präsident die Welt gestürzt hat, Stimme und Gesicht. Eine
Zuhörerin, die sich nach der90-minütigen Lesung und Diskussion Goreliks neuen Roman
von der Autorin signalisieren ließ, hatte Recht, als sie sagte „Es war
großartig, wie Sie die Dinge auf den Punkt gebracht haben, ohne sie zu
psychologisieren.
„Auch
dieser Krieg wird nicht mit einem Waffenstillstand enden. Seine Folgen werden
sich durch viele Lebensläufe ziehen und uns noch lange beschäftigen“, stellte
Gorelik fest und fügte hinzu: „Die Frage, ob Literatur politisch sein kann und
politisch sein muss, erübrigt sich seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine!“
Ihr
Versuch, telefonisch mit Freunden und Verwandten in Russland über den Krieg zu
sprechen, sei von diesen rundweg abgelehnt worden, berichtet die zweifache
Mutter, die nicht nur in ihrer Muttersprache Russisch und im Deutschen, sondern
auch in der ukrainischen Sprache zuhause ist. Bei ihrem russischen
Gesprächspartner spürte sie die aus dem Selbstschutz und dem Überlebenswillen
geborene Mentalität, sich „bestimmte Fragen besser erst gar nicht zu stellen!“,
die sie aus ihrer Kindheit im spät-sowjetischen und post-sowjetischen Russland
nur zu gut kennt.
Auch
bei ihren Eltern, mit denen sie 1992 nach Deutschland kam, spürt sie diese
Mentalität, wenn sie sie fragt, ob sich der Wechsel von Russland nach
Deutschland, rückblickend für sie gelohnt habe. Mutter und Vater hatten als
Ingenieure in Russland ein gutes Auskommen und ein hohes Sozialprestige. Aber
sie lebten als Juden in einer antisemitischen Gesellschaft, in der es
ungeschriebene Gesetze gab, die die Persönlichkeitsentwicklung ihrer mit
Sprach- und Beobachtungsgabe begnadeten Tochter gehemmt hätten.
Doch
anders als ihre Tochter, der man stundenlang zuhören könnte, ohne gelangweilt
zu sein, haben ihre Eltern in der deutschen Sprache und in der deutschen
Gesellschaft kein neues Zuhause finden zu können.
Die
Zeitarbeit in Deutschland hat ihren Vater krank gemacht. Ihre Mutter arbeitete
erst als Putzfrau und später als Bausparkassenfrau, um ihre Familie
durchzubringen. Doch bis heute hat Sie ihre Probleme mit der deutschen
Grammatik und wird deshalb von vielen Menschen hierzulande „als die Äusländerin
betrachtet, die erst mal richtig Deutsch lernen muss“, betrachtet. Immer wieder
zeigen ihr die hier geborenen Deutschen mit der Nachfrage ‚Wie bitte?‘, dass
sie vor allem ihre sprachlichen Schwächen und nicht ihre menschlichen Stärken
sehen.
Lena Goreliks Lesung im Rahmen der vom Ringlokschuppen und vom Literaturbüro Ruhr initiierten Veranstaltungsreihe: „Das Problem heißt Antisemitismus“ zeigt: Wir sind aufeinander angewiesen und sollten uns im eigenen Interesse gegenseitig stärken und nicht schwächen.
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