Donnerstag, 5. September 2013

Zum Schuljahresbeginn plädiert der Schulpsychologe Günter Waberg für eine Erziehung ohne Brechstange und Bremsklötze, die Kinder ihre eigenen Wege gehen und ihre eigenen Ziele finden lässt

Am 4.September beginnt für die I-Dötzchen der Ernst des Lebens. Dabei freuen sich die meisten Kinder auf ihren ersten Schultag. Das bestätigt auch Schulpsychologe Günter Waberg. 99 Prozent seiner Klienten verbinden, von ihm darauf angesprochen, mit ihrem ersten Schultag positive Emotionen. Doch was sorgt danach für Schullust und Schulfrust? Darüber sprach ich jetzt mit ihm im Auftrag der  NRZ.

Frage: Hatten Sie Angst vor ihrem ersten Schultag oder haben Sie sich gefreut?

Antwort: Ich habe diesen Tag herbeigesehnt, weil ich den anderen Kindern zeigen wollte, was ich schon kann. Ich hatte meiner ein Jahr älteren Schwester Gisela nämlich schon in ihrem ersten Schuljahr immer über die Schulter geschaut und unter anderem mit Hilfe von Autokennzeichen Buchstaben lesen gelernt. Aber schon bei der ersten Hausaufgabe habe ich auch Schulfrust erlebt. Ich bin nämlich noch zu Ostern eingeschult worden. Damals sollten wir zu Hause auf unsere Schiefertafel ein Osterei malen. Als ich damit fertig war, hat meine Mutter gesagt: „Das kannst du besser“ und hat mein Osterei weggewischt.

Frage: Mit welchen Problemen werden Sie heute als Schulpsychologe konfrontiert?

Antwort: Es geht meistens um Schüler, die in ihrer Klasse anecken, weil sie gegen die vorgegebenen Regeln verstoßen, indem sie einfach hereinschreien, Mitschülern Unterrichtsmaterial wegnehmen und kaputt machen oder auch vor körperlichen Übergriffen nicht zurückschrecken. Aber auch Ausgrenzung und Mobbing von Schülern ist ein häufiges Thema. Schüler werden von ihren Klassenkameraden beleidigt, nicht wahrgenommen, körperlich angegriffen oder gehänselt, weil sie sich bestimmte Markenkleidung oder ein Smartphone nicht leisten können. Dann müssen wir auch Lehrer beraten, wie sie in ihrem Unterricht zum Thema Mobbing arbeiten können, um die Täter nicht zu brandmarken, sondern in eine verträgliche Gemeinschaft zurückzuführen.

Frage: Ist der Schulalltag rauer geworden?

Antwort: Ich erinnere mich, dass wir auch in meiner Klasse einen Streber hatten, den wir gerne außen vor ließen. Schüler, die anecken oder ausgegrenzt werden, hat es auch früher schon gegeben. Doch heute ist man für viele Themen, wie zum Beispiel Mobbing mehr sensibilisiert. Man spricht sie eher an, als sie unter den Teppich zu kehren.

Frage: Ist die Schule also ein Spiegelbild der Gesellschaft?

Antwort: Natürlich spiegelt sich in der Schule unsere Leistungsgesellschaft. Da werden Noten vergeben, Rangstufen erstellt und Schüler auf verschiedene Schulformen verteilt. Schule findet immer in einem Spannungsfeld statt. Sie muss normiertes Wissen vermitteln und überprüfen, aber auch Schüler individuell begleiten und dem, was sie als Persönlichkeit mitbringen, gerecht werden.

Frage: Warum wird nach der Grundschule aus der Schullust oft Schulfrust?

Antwort: Das hat nicht nur mit wachsenden Lernanforderungen, sondern auch mit der Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Grundschulkinder bringen meistens eine hohe Zustimmung zu Schulveranstaltungen mit, während sich Schüler vor allem während ihrer Pubertät oft der Ansprache durch die Schule verweigern und ihre ganz eigenen Interessen mehr in den Blick nehmen. Das beruhigt sich dann aber in der 9. und 10. Klasse, wenn Schüler eine Idee davon bekommen, weshalb sie zur Schule gehen und auf welches Ziel sie hinlernen.

Frage: Beeinflussen auch Zukunftsängste der Eltern den Schulalltag ihrer Kinder?

Antwort: Eltern wissen, dass eine gute Schulbildung, die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist. Deshalb gibt es heute 5. Klassen am Gymnasium, in denen alle Schüler Nachhilfe bekommen, um den Übergang zum Gymnasium ohne Brüche zu schaffen und nicht abgehängt zu werden. Das zeigt, wie ernst Eltern heute das Thema Lernen nehmen.

Frage: Wie kann man Schüler motivieren, ohne sie zu überfordern?

Antwort: Man sollte Kinder weder ausbremsen noch mit der Brechstange vorgehen. Eltern müssen akzeptieren, dass jede Hilfe für ihre Kinder immer nur eine Hilfe zur Selbsthilfe sein kann und das ihre Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind, die im Leben ihre eigenen Wege gehen und ihre eigenen Ziele finden müssen.

Zur Person

Günter Waberg (61) leitet seit 1982 die an der Adolfstraße 53 absässige schulpsychologische Beratungsstelle der Stadt. Zusammen mit fünf Kollegen gibt der studierte Lehrer und Psychologe in jedem Schuljahr in rund 450 Fällen Lehrern, Eltern und Schülern psychologischen Rat in allen Schul- und Lebenslagen. Die Zahl seiner Beratungen ist aus seiner Sicht auch deshalb in den letzten Jahren eher rückläufig, weil die Schülerzahl sinkt, Beratungslehrer psychologisch fortgebildet worden sind und heute fast alle weiterführenden Schulen einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin haben.


Waberg wurde 1958 in eine Volksschule eingeschult, wechselte 1962 zum Gymnasium und bestand 1970 das Abitur. Anschließend studierte er auf Lehramt für Haupt- und Grundschulen, ehe er nach seinem Referendariat und seinem Wehrdienst Psychologie studierte und sein Studium mit einer Halbtagsstelle als Förderschullehrer finanzierte.

Dieser Text erschien am 4. September 2013 in der Neuen Ruhr Zeitung

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