Montag, 5. Februar 2024

Demokratie unter Druck

 Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen für unsere Demokratie auf die Straße gegangen. Auch in Mülheim nahmen sich 7000 Menschen dafür Zeit, den eisigen Temperaturen zum Trotz. Auch wenn diese 7000 Demonstrierenden angesichts der Teilnehmendenzahlen in anderen Großstädten vergleichsweise erscheinen mögen, ist diese Zahl für unsere Stadt mit derzeit 174.000 Einwohnern beachtlich, zumal die Kundgebung sehr kurzfristig initiiert wurde. Der DGB wäre froh, wenn er bei seiner Kundgebung am 1. Mai eine solche Zahl von Menschen mobilisieren könnte. Nur der Rosenmontagszug bringt mehr Menschen in unserer Stadt im Grenzbereich zwischen Ruhr und Rhein auf die Straße. Aber Spaß bei Seite. 

Die Frage bleibt: Was wird aus unserer Demokratie und wie bleibt sie funktionsfähig? Denn darum geht es im Kern. Warum werden antidemokratische Positionen politisch wieder salonfähig. Warum  gründen sich derzeit neue Parteien mit Aussicht auf Erfolg. Ist mit den bestehenden Parteien kein Staat mehr zu machen? Die Werteunion und das Bündnis Sarah Wagenknecht, aber auch die dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seiner Partei AKP nahestehende Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch, die sich als Migrantenlobby profilieren und positionieren will, sehen Lücken im demokratischen Parteienspektrum, die sie ausfüllen wollen, ob mit rechts- und nationalkonservativer oder mit sozialkonservativer Ausrichtung.

Vor allem bei den Wahlen des Europäischen Parlaments im Juni 2024 sind ihre Chancen vergleichsweise gut, weil hier nach dem reinen Verhältniswahlrecht, ohne Sperrklausel, gewählt wird.

Sind neue Parteien Teil der Lösung oder Teil des Problems? Aus der Kommunalpolitik aber auch aus dem historischen Beispiel des Reichstages der Weimarer Republik wissen wir: Das reine Verhältniswahlrecht erschwert die Parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die politische Entscheidungsfindung.

Das ist der Kern unserer Demokratiekrise. Wo die Mehrheitsbildung immer schwieriger werden auch politische Entscheidungen immer schwieriger. Damit wird die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staates und infolge dessen auch seine Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Und genau dies schwächt die soziale Akzeptanz des demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems, über das der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) zurecht festgestellt hat: "Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, außer aller anderen."

Der soziale Wandel unserer Gesellschaft, weg von einer nivellierten  Mittelstandsgesellschaft, weg von identitäts- und gemeinschaftsstiftenden sozialen Milieus und hin zu einer stark differenzierten und individualisierten Gesellschaft. Die Umfrage- und Wahlergebnisse der letzten Jahre zeigen uns dies überdeutlich.

Wollen wir als Staat und Gesellschaft in einer globalisierten Welt wieder mehr soziale und politische Stabilität, so müssen wir erkennen, verstehen und akzeptieren, dass unsere Demokratie nicht nur von der diskursiven Willensbildung, sondern auch von der zeitnahen Entscheidungsfindung leben.

Eine Option zur Erreichung dieses Ziels könnte die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes sein, wie es derzeit in Großbritannien, in den USA und in Frankreich praktiziert wird und wie es auch im Deutschland vor 1918 praktiziert wurde. Das wahlkreisbasierte Mehrheitswahlrecht erleichtert die parlamentarische Mehrheitsbildung und damit auch die Entscheidungsfindung. Außerdem zwingt es die mit der Stimmenmehrheit in ihrem Wahlkreisen gewählten Abgeordneten zur Bürgernähe. 

Doch das allein würde die Handlungs- und Funktionsfähigkeit unsere demokratischen und sozialen Bundesstaates nicht erhöhen, wenn wir die handlungshemmende Verschränkung von Bundestag und Bundesrat. Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) hat als Präsident des Parlamentarischen Rates (1948/49) dies bereits vorausgesehen. Deshalb plädierte er mit anderen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die sich jedoch am Ende nicht durchsetzen konnten, den Bundesrat nicht als Parlamentskammer der in der Regel koalitionsbasierten Landesregierungen, sondern vergleichbar dem US-Senat, zu einer von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählten Ländervertretung zu machen. Dies würde die parlamentarische Entscheidungsfindung konstruktiv erleichtern und beschleunigen, zumal dann, wenn man den deutschen Föderalismus noch einmal eine Aufgaben- und Strukturkritik unterziehen würde, mit dem Ziel zu definieren, für welche Aufgaben es Sinn macht, die alleinige politische Verantwortung den Ländern oder dem Bund zuzuweisen und in welchen Aufgabenfeldern eine gemeinsame Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern, die naturgemäß im die Gefahr eines Entscheidungen blockierenden Interessenkonfliktes unausweichlich ist.

Angesichts der aktuell 299 Bundestagswahlkreise zeigt sich, dass die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes problemlos eine Zahl der Mandate mit sich bringen würde, weil Listen,- Überhang- und Ausgleichsmandate im vergleichsweise einfachen und damit transparenten Mehrheitswahlrecht entfallen würde. Im Sinne der Bürgernähe könnte man die Wahlkreise sogar verkleinern und ihre Zahl damit erhöhen und damit trotzdem einen erheblich schlankeren und damit auch für die SteuerzahlerInnen preiswerteren Bundestag schaffen.


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