1931 geboren, gehört der Diplomingenieur, Heinz Wilhelm
Auberg, zu jenen Mülheimern, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben. Als
die amerikanischen Truppen am 11. April 1945 mit ihrem Einmarsch den Krieg in
Mülheim beendeten, befanden sich Auberg und seine Kammeraden aus der
Mittelschule für Jungen noch auf dem Heimweg aus der Kinderlandverschickung.
In Buchtaberg, 150 Kilometer südöstlich von Prag, hatten 200
Mülheimer Mittelschüler Zuflucht vor den Bomben gefunden, die in der Nacht vom
22. auf den 23. Juni 1943 auch Aubergs Elternhaus an der Friedrich-Karl-Straße
zerstört hatten. Auberg und seine Klassenkammeraden lebten und lernten mit
ihren Lehrern Wilhelm Dietz und Martha Kükel in einer ehemaligen Lungenheilanstalt
für Kinder. „Trotz des Kriegs erlebten wir dort eine schöne Zeit. Im Winter konnten
wir Skifahren und im Frühjahr und Sommer durch die Wälder wandern. Außerdem
hatten wir ein gutes Verhältnis zu den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes Niemetzki,
die uns zu ihren Gottesdiensten einluden und regelmäßig unsere Skier
reparierten“, erinnert sich Auberg.
Doch am 26. April, als die Amerikaner schon in Mülheim das
Kommando übernommen hatten, mussten die Mülheimer Mittelschüler, per Zug und auf
Lastwagen der Wehrmacht vor der heranrückenden Roten Armee gen Westen fliehen. Auberg
erinnert sich: „Wir wussten damals nichts von unseren Eltern und von der Lage
in Mülheim, da die Postverbindung seit Monaten abgebrochen war. Ein
Klassenkamerad, der bereits Wochen vor mir auf eigene Faust von seinem Vater aus
nach Mülheim zurückgeholt wurde, konnte uns später berichten, dass die amerikanischen
Truppen am 11. April aus Essen kommend über die Aktienstraße in Mülheim
einmarschiert waren, ohne dabei auf Widerstand der Wehrmacht zu treffen, die
sich bereits zurückgezogen hatten.“
Ihren ersten schwarzen GI sahen Auberg und seine anderen Mitschüler
nicht in Mülheim, sondern auf ihrem Heimweg dorthin, der sie auch durch
Berchtesgaden führte. „‘Come on, boys‘ sagte er zu uns und schenkte uns
Schokolade und Kaugummi. Dabei war er überrascht, dass wir Englisch sprechen
und ihn verstehen konnten“, erinnert sich Auberg.
Im Juli 1945 sah der 14-Jährige seine Heimatstadt, eine
Trümmerlandschaft, wieder. Dort regierten Not und Hunger. Mit seiner Mutter
Else, seinem jüngeren Bruder Horst und seiner Großmutter lebte er im 20 Quadratmeter
großen Keller des zerbombten Elternhauses. „Dort regnete es durch. Später konnte
mein Onkel Walter Holz, Steine und Zement organisieren, so dass wir notdürftig
mit dem Wiederaufbau beginnen konnten, der sich bis 1947 hinziehen sollte“,
erinnert sich Auberg. Sein Onkel Hans, der wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft zwischenzeitlich
seine Stelle beim stätischen Katasteramt verlor und deshalb in einer
Waschmaschinenfabrik an der Charlottenstraße arbeiten musste, machte Heinz
derweil mit der klassischen Musik und dem kleinen Einmaleins der Mathematik vertraut.
Sein Vater Heinrich sollte erst 1946 aus amerikanischer
Kriegsgefangenschaft heimkehren und als Straßenbahnschaffner den
Lebensunterhalt der Familie verdienen konnte. Bis dahin fuhren Heinz und seine
Mutter in überfüllten Zügen zum Hamstern aufs Land nach Hamminkeln und Gifhorn.
„Mutter nähte dort für die Bauern und wir bekamen dafür von ihnen Brot, Butter,
Kartoffeln, Speck und Wurst“, erinnert sich Auberg. In unguter Erinnerung
geblieben sind ihm die Bahnpolizisten, die sich auf der Heimfahrt bei sogenannten
Kontrollen sich auch schon mal das eine oder andere erhamsterte Lebensmittel
für den Eigenbedarf unter den Nagel rissen.
Unvergesslich bleibt Heinz Auberg auch der Verlust einer
Lebensmittelkarte. „Das war eine Katastrophe. Aber ich konnte meinen Fehler
wiedergutmachen, in dem ich Zigaretten und Kaugummi, die ich amerikanischen
Soldaten aus dem Handschuhfach ihrer Jeeps geklaut hatte, gegen Lebensmittel
eintauschte“, erzählt er. Ab dem 1. Oktober 1945 mussten Auberg und seine Klassenkameraden
wieder zur Mittelschule. Da ihr altes Schulgebäude an der Ecke Kaiserstraße/Adolfstraße
den Bomben zum Opfer gefallen war, wurden die Mittelschulen für Mädchen und
Jungen im Schulgebäude an der Oberstraße zusammengelegt. Aber Mädchen und
Jungen wurden weiter getrennt unterrichtet. „Wir lernten ohne Bücher und abwechselnd
vormittags und nachmittags und bekamen vom Schwedischen Roten Kreuz eine
Schulspeise, die aus Erbsen- oder Biskuit-Suppe bestand“, weiß Auberg zu
berichten. Auf dem Stundenplan standen Deutsch, Mathematik und Englisch. Aber
die jüngste Vergangenheit und ihre politischen Folgen waren in der Schule kein
Thema. Der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie und deren philosophischen
Grundlagen kamen damals nur in der Jugendgruppe des Styrumer Pfarrers Paul
Biermann zur Sprache. Der hatte während der NS-Zeit zur regimekritischen Bekennenden
Kirche gehört. Nach dem Unterrichtsende ging es oft zum Steineklopfen und
Trümmerräumen in die Stadt. Die geistigen Trümmer zu beseitigen, die die
NS-Diktatur hinterlassen hatte, dauerte noch länger. „Ich erinnere mich, dass
wir beim Anstreichen unseres Klassenraums das NS-Lied: ‚Ein Junges Volk steht
auf, zum Sturm bereit!‘ gesungen haben und dafür beinahe von der Schule
geflogen wären“, erinnert sich Auberg. Er räumt ein, dass es für ihn bis in die
1950er Jahre hinein dauerte, ehe er nach der Lektüre von Golo Manns Buch: ‚Deutschlands
Weg im 20. Jahrhundert dauerte, ehe er sich endgültig von der NS-Ideologie
verabschieden konnte, die das Denken seiner Kindheit und Jugend geprägt hatte.
Dieser Text erschien am 15. April 2020 in NRZ &; WAZ
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