Als die Amerikaner am 11. April 1945 mit ihrem Einmarsch den
Zweiten Weltkrieg beendeten, lag der damals 17-jährige Mülheimer Horst Heckmann,
weit ab seiner Heimat, in einem mecklenburgischen Lazarett und kurierte dort Fußverletzungen
aus, die er sich durch das Marschieren in seinen viel zu kleinen
Wehrmachtsstiefeln zugezogen hatte. „Das war mein großes Glück. Denn wäre ich
bei meiner Einheit geblieben, die an der Oder von der Roten Armee vollständig
vernichtet worden ist, hätte ich den Krieg nicht überlebt“, erinnert sich
Heckmann. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett meldete er sich nicht, wie
befohlen, bei der nächsten Wehrmachtsdienststelle, sondern beging mit zwei
Kameraden Fahnenflucht und schlug sich zu Fuß und im Gefolge von ostpreußischen
Flüchtlingstrecks gen Westen durch.
Südlich von Schwerin gingen Heckmann und seine Kameraden in
amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurden später von den Briten übernommen.
Nach einer Zwischenstation in Schleswig-Holstein und im berühmt-berüchtigten
Wiesenlager bei Rheinberg, wo 1000de deutscher Kriegsgefangener unter freiem Himmel
kampieren mussten, erreichte er im Juli 1945 auf einem britischen Militärlaster
seine in Trümmern liegende Heimatstadt. „Die Briten hatten mich aus der
Kriegsgefangenschaft entlassen, weil ich angegeben hatte, im Ruhrbergbau arbeiten
zu wollen. Bergleute wurden damals dringend gebraucht“, erinnert sich Heckmann.
Doch als er dann wieder zuhause war, „stellte sich heraus, dass ich viel zu schwach
und unterernährt war, um wie einige meiner Onkel zum Beispiel auf der Zeche
Wiesche oder in der Friedrich-Wilhelms-Hütte arbeiten zu können.“
Doch Heckmann hatte Glück im Unglück. Sein Elternhaus an der
Heinrichstraße stand noch und hatte, „abgesehen von einigen Brandschäden auf
dem Speicher“, die Luftangriffe auf Mülheim leidlich überstanden. Dort konnte
er zusammen mit seinem Vater Heinrich leben, allerdings sehr beengt auf nur
einem Zimmer, weil der Wohnraum mit ausgebombten Nachbarn geteilt werden
mussete. „Heißen hatte den Luftkrieg, anders als die Innenstadt, vergleichsweise
glimpflich überstanden. Hier waren nicht ganz so viele Häuser zerstört worden“,
erinnert sich Heckmann. „Was können wir heute essen, um zu überleben?“
formuliert er die zentrale Frage, die alle Mülheimer in den ersten Nachkriegsmonaten
und darüber hinaus umtrieb. „Mein Vater und ich sind oft zu den Bauern nach Menden
geradelt, um dort Eier, Speck und Kartoffeln zu hamstern. Mein Vater kannte sie
noch als Kunden aus seiner Vorkriegszeit als Kurzwarenhändler und Hausierer“,
erzählt Horst Heckmann.
Er erinnert sich daran, dass „die seit dem Juni 1945 im
Rathaus einquartierten Offiziere der britischen Militärregierung im
öffentlichen Leben Mülheims sehr zurückhaltend auftraten und daran, dass die
Hauptstraßen relativ schnell trümmerfrei waren und selbst in stark
kriegsbeschädigten Häusern Geschäfte eröffneten.“ Doch Lebensmittel, so
Heckmann, habe es damals nur auf Lebensmittelkarten gegeben und oft habe man
lange anstehen müssen, um etwas zu bekommen. Der 1928 geborene Mülheimer, der
heute in Styrum lebt, hat die ersten Nachkriegsmonate als eine Zeit der Niedergeschlagenheit
und der Orientierungslosigkeit in Erinnerung behalten. „Als Mitglied der
Hitler-Jugend hatte ich daran geglaubt, dass Deutschland einen gerechten Krieg
führe. Doch jetzt musste ich einsehen, dass wir von einem verbrecherischen Regime
verraten und verkauft worden waren und dass unser jugendlicher Idealismus
missbraucht worden war“, beschreibt Horst Heckmann seine Stimmungslage in den
ersten Nachkriegsmonaten. Damals hielten sich sein Vater und er mit Gelegenheitsarbeiten
über Wasser. Aus Schrotteilen bauten sie Fahrräder, die sie dann wieder gegen
Lebensmittel eintauschen konnten. Doch Heckmann erinnert sich im Rückblick auf
die ersten Nachkriegsmonate in Mülheim auch „an das befreiende Gefühl, dass wir
jetzt im Frieden lebten und nicht mehr in den Luftschutzkeller laufen mussten.“
Im Oktober 1945 brachen die beiden Heckmänner von Mülheim nach Thüringen auf. Denn
dort lebte ihre Mutter und Frau Emma. Hier hatte Horst Heckmann seine Mittlere
Reife gemacht, nachdem seine Mülheimer Schule, die Mittelschule für Jungen, im
Juni 1943 von Bomben zerstört worden war. Und hier sollte er in den ersten
Nachkriegsjahren als Volksschullehrer arbeiten, ehe er aus politischen Gründen die junge DDR wieder
verließ und mit seinen Eltern in der alten Heimat Mülheim ein neues Leben als
Bürokaufmann anfing. In der Rückschau auf die Nachkriegszeit staunt Heckmann noch
heute darüber, wie schnell die Stadt wiederaufgebaut und mit neuen Leben gefüllt
worden ist. „Die Menschen hatten nach dem Krieg einen enormen Nachholbedarf und
wollten einfach nur leben“, sagt Heckmann. Und wenn er auf die heutige Krise
schaut, dann hat er vor dem Hintergrund seiner Kriegs- und Nachkriegserfahrungen
das Gefühl, „dass ich das nicht so tragisch nehme, wie es vielleicht angemessen
wäre.“
Dieser Text erschien am 21. April 2020 in NRZ &WAZ
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