Nikolaus Groß war ein Bergmann, der sich an
Abendschulen weiterbildete und so zum Arbeiterführer und Chefredakteur der
Westdeutschen Arbeiterzeitung aufstieg. Was verbindet Claudia Khom und Peter
Wangen mit den 2001 selig gesprochenen Widerstandskämpfer, der 1945 von den
Nazis hingerichtet wurde? „Wohl die Erfahrung, dass Bildung das Leben positiv
verändern kann und das man mit Fleiß und Engagement alles erreichen kann, was
man wirklich will“, sagen die beiden Abiturienten des
Nikolaus-Groß-Abendgymnasiums.
Claudia Khom
und Peter Wangen sind besondere Abiturienten. Sie sind nicht 18 oder 19 Jahre
jung, wie die meisten Schüler, die in diesen Wochen ihr Zeugnis der Reife
erhalten. Mit 34 (Khom) und 25 (Wangen) gehören sie zu den reiferen Jahrgängen,
die ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht haben. Beide haben in ihrem
ersten Schülerleben die Fachoberschulreife erworben und anschließend etliche
Jahre in der stationären Krankenpflegegearbeitet.Beide beschreiben ihren zweiten Bildungsweg am bischöflichen Abendgymnasium in Essen als „Exodus aus unserem Berufsleben.“
Die
34-jährige Mutter aus Bottrop und der 25-jährige Junggeselle aus Mülheim an der
Ruhr waren mit ihrer Arbeit als Krankenpfleger in einem Essener Krankenhaus
schon länger nicht mehr zufrieden, als sie nach einem Ausweg suchten und ihn via
Internetrecherche am Abendgymnasium des Ruhrbistums fanden.
„Man hat mir
immer gesagt, dass ich meine Arbeit gut gemacht habe. Aber ich fühlte mich
trotzdem nie am richtigen Platz und habe unter der knappen Personaldecke
gelitten“, erinnert sich Khom. Und Wangen fühlte sich von seinem Arbeitgeber
oft „wie billiges Proletariat und wie ein Rädchen im Getriebe behandelt, obwohl
man eine sehr verantwortungsvolle Arbeit leisten musste.“
Vor allem dann,
wenn seine ehemaligen Schulfreunde von ihren Erfahrungen mit dem
Hochschulstudium und ihrer beruflichen Weiterentwicklung berichteten, spürte er
eine schmerzliche Unzufriedenheit, „weil ich selbst das Gefühl hatte, mich in
meinem Beruf nicht weiterentwickeln zu können.
„In meinem
ersten Schülerleben war ich eher faul und vor allem am Sport interessiert“,
erklärt er, warum es auf dem ersten Bildungsweg mit dem Abitur nichts wurde.
„Ich habe eigentlich gerne gelernt und anderen Menschen etwas erklärt. Aber in
meiner Schule fühlte ich mich nicht wohl. Das hatte auch mit meinen damaligen
Mitschülern und Lehrern zu tun, bei denen ich mich nicht gut aufgehoben und
gefördert fühlte“, erinnert sich Khom, warum sie nach der elften Klasse ihre
Gesamtschule verließ und eine Ausbildung als Krankenpflegerin begann.
„Dennoch“,
so sagt sie rückblickend, „hat es mich immer gefuchst, dass ich damals das
Abitur nicht gemacht habe, weil ich wusste, dass ich das gekonnt hätte.“ Wie
bei ihrem Mitschüler Wangen, war es auch bei Khom „die Angst davor, Fehler zu
machen und von anderen dafür ausgelacht zu werden“, die ihr im ersten
Schülerleben die Freude am Lernen verdarb.
„Ich hätte
nie gedacht, dass mir Schule Spaß machen könnte“, sagt Wangen nach zweieinhalb
Jahren am Abendgymnasium. Hier entdeckte er sein Interesse für Mathematik und
Physik und „die faszinierende Logik der Beweisführung, die in diesen
Wissenschaften steckt.“
Was hat die
Last des Lernens am Abendgymnasium in eine Lust verwandelt? „Das hat wohl mit
unseren Lehrern und Mitschülern zu tun. Wir haben hier immer wieder in kleinen
Gruppen zusammengearbeitet, in denen alle das gleiche Ziel hatten und niemand
auf die Idee gekommen wäre, über jemanden zu lachen, weil der etwas nicht
wusste. Und auch die Lehrer standen immer wieder für Fragen bereit. Die konnten
wir auch während der Ferien anrufen oder per E-Mail kontaktieren. Außerdem
boten sie uns regelmäßig die Gelegenheit, durch Referate und Probeklausuren
unser Wissen zu vertiefen und unsern Lernerfolg zu erhöhen“, beschreibt Khom
den besonderen Arbeitsstil, „den ich in meiner früheren Schule so nicht
kennengelernt habe.“Auch ihr Mitschüler, der in seinem ersten Schülerleben an einer Freien Waldorfschule unterrichtet worden war, hatte am Abendgymnasium das Gefühl, „dass ich mich hier ganz anders einbringen konnte und deshalb auch das systematische Lernen erst richtig gelernt habe.“
Wangen lässt keinen Zweifel daran, dass es auch der Albtraum seines ersten Berufslebens in der Krankenpflege war, der ihn vorantrieb. „Ich habe mich vom ersten Tage hier gut gefühlt, weil ich wusste, dass ich hier die Chance bekomme, durch meine eigene Anstrengung meine Lebenschancen zu verbessern.“
Beratungslehrerin
Angelika Hover, die am Nikolaus-Groß-Abendgymnasium Deutsch und Englisch
unterrichtet, weiß: „Die Schüler am Abendgymnasium sind älter, reifer und
deshalb motivierter. Sie wissen, was sie wollen und fordern das Wissen auch
aktiv ein. Deshalb arbeiten hier Lehrer und Schüler sehr partnerschaftlich
zusammen.“
Durch die
Möglichkeit, am Nikolaus-Groß-Abendgymnasium nicht nur abends, sondern auch
vormittags lernen zu können, konnten Khom und Wangen ihren Schulunterricht den
Wechselschichten ihres Berufes anpassen und so zunächst parallel arbeiten und
lernen. Doch im letzten Jahr vor ihrem Abitur haben beide dann doch der Schule
den Vorrang eingeräumt und ihre Berufstätigkeit auf Teilzeit reduziert.
„Auch wenn
manche Freunde mich gefragt haben: Warum tust du dir diesen Stress an, habe ich
eigentlich erst kurz vor dem Abitur so etwas, wie Schulstress empfunden“,
betont Peter Wangen und ist sich mit seiner Mitschülerin Claudia Khom einig:
„Die Entscheidung für das Abitur am Nikolaus-Groß-Abendgymnasium können wir
anderen Menschen in einer vergleichbaren Situation nur empfehlen. Für uns war es
die beste Entscheidung unseres Lebens.“Dass sie diese Entscheidung für den zweiten Bildungsweg nicht bereuen mussten, sondern als „eine Erweiterung unseres Horizontes“ erleben konnten, haben die beiden späten Abiturienten aber nicht nur sich selbst zu verdanken. Daran lassen sie keinen Zweifel. „Mein Mann, der selbst auch in der Krankenpflege arbeitet, hat mich ebenso, wie meine Eltern und Schwiegereltern unterstützt und zum Beispiel bei der Betreuung unserer drei Kinder und Pflegekinder entlastet. Er weiß, dass ich nicht glücklich geworden wäre, wenn ich meinen Lebenstraum nicht verwirklichen könnte“, erzählt Khom. Ihr Mitschüler Wangen ist seinen Eltern sehr dankbar, dass er auch als berufstätiger Abendschüler mietfrei zu Hause wohnen durfte und so finanziell enorm entlastet wurde.
Jetzt möchte
er Bundesausbildungsförderung (Bafög) beantragen, um in Tübingen Physik und
Mathematik und vielleicht ja auch noch Philosophie zu studieren. Auch Khom
möchte Mathematik studieren, wahrscheinlich aber wohnortnah im Ruhrgebiet. Denn
sie wird ja nicht nur Studentin, sondern auch weiterhin Mutter sein. Auch neben
dem Studium möchte sie weiter in der Kinderpflege arbeiten und so zum
Familieneinkommen beitragen. Doch ihr neunjähriger Sohn Lukas kennt schon den
wahren Traumberuf seiner Mutter: „Meine Mamma wird jetzt Lehrerin“, sagt er
nicht ohne Stolz.
Das Nikolaus-Groß-Abendgymnasium wurde 1959 vom ersten Ruhrbischof
Franz Hengsbach gegründet. Zunächst wurde es nur von Männern besucht, die ihr
Abitur nachholen wollten, um Priester zu werden. Inzwischen sind aber mehr als
50 Prozent der Schüler weiblich und holen am Abendgymnasium des Bistums Essen
nicht nur ihr Abitur und ihr Fachabitur, sondern auch ihre Fachoberschulreife
nach. Der Schulbesuch ist gebührenfrei und kann durch Bafög unterstützt werden.
Wer das Abendgymnasium, das seit 1998
den Namen von Nikolaus Groß (1898-1945) trägt, besuchen möchte, muss mindestens
18 Jahre alt sein. Es gibt aber auch Schüler, die noch mit Anfang 70 dort ihr
Abitur nachholen, weil sie auf ihrem bisherigen Lebensweg nicht dazu gekommen
sind. Weitere Informationen zum Nikolaus-Groß-Abendgymnasium findet man im
Internet unter: www.abendgymnasium-essen.de
Dieser Text erschien am 28. Juni 2014 im Neuen Ruhr Wort und in der Tagespost
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