Freitag, 14. Dezember 2012

Warum es in unserer Stadt immer mehr privatärztliche Praxen gibt

Wie die Ärztekammer Nordrhein jetzt mitteilte, hat sich die Zahl der privaten Arztpraxen in Mülheim in den letzten fünf Jahren verfünffacht - auf heute 35. Der Vorsitzende der örtlichen Ärztekammer, Uwe Brock, bestätigt den Trend: „Es gibt bei der Ärzteversorgung ein starkes Nord-Süd-Gefälle.“ Im wohlhabenden Süden ziehen viele Privatpatienten Niedergelassene an, in einigen Nordstadtteilen ist die Versorgung nur noch knapp gewährleistet.

Brock spürt bei vielen Kollegen Unzufriedenheit und weist darauf hin, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung derzeit ihre 150.000 Mitglieder befragt, ob sie das Versorgungs- und Honorierungssystem der gesetzlichen Krankenkassen weiter mittragen wollen. Mit Blick in die Zukunft warnt Brock vor fehlendem Ärztenachwuchs und einer Überalterung der niedergelassenen Ärzte.

Die Antwort auf die Frage , warum immer mehr Ärzte auch oder nur noch privat praktizieren wollen führt zu Ärzten wie Dr. Ralf Lange. Der Kardiologe, der auch als Kassenarzt in Gladbeck arbeitet und in Essen wohnt, betreibt seit drei Jahren an der Bahnstraße eine privatärztliche Praxis, die ihn inzwischen vier bis fünf Tage pro Woche beschäftigt.

Seine privatärztliche Tätigkeit in Mülheim versteht er unter anderem als Quersubventionierung seiner kassenärztlichen Praxis. Nach 20 Jahren als Kassenarzt, entschloss sich Lange aber nicht nur aus betriebswirtschaftlichen Gründen dazu, seinen beruflichen Schwerpunkt auf seine Privatpraxis zu verlegen.

Das Honorarsystem der gesetzlichen Krankenkassen, sagt er, gestehe ihm als Kardiologen nur 50 Euro pro Patient und Quartal zu. Überdies ist die Zahl der Patienten, die in einer kardiologischen Praxis pro Quartal behandelt werden dürfen, auf 700 begrenzt. Langes Fazit: „In der kassenärztlichen Versorgung gilt das Prinzip Masse und Akkord, weil Ärzte für immer weniger Geld immer mehr leisten müssen und entweder vom Burnout oder von der Insolvenz bedroht sind.“ Als privat praktizierender Facharzt, der jede Leistung einzeln abrechnen darf, kann Lange „meinen eigenen Qualitätsstandard als Arzt halten.“ Im Klartext - und im Gegensatz zu Kassenpraxen - heißt das: In seiner privaten Praxis kann er sich viel mehr Zeit für den einzelnen Patienten nehmen, um sich im Gespräch der Lebens- und Krankengeschichte zu widmen.

Viel deutlicher lässt sich Zwei-Klassen-Medizin nicht beschreiben. Lange räumt ein, dass es im deutschen Gesundheitssystem ein Gerechtigkeitsproblem gibt. Das erkennt er zum Beispiel daran, dass gesetzlich Versicherte oft ein halbes Jahr auf eine Facharztuntersuchung warten müssen, „während der Privatpatient schon übermorgen einen Termin bekommt.“ Doch das Gerechtigkeitsproblem kann nach Langes Ansicht nur politisch gelöst werden.

Weil Kardiologe Ralf Lange davon überzeugt ist, dass das Gerechtigkeitsproblem im deutschen Gesundheitssystem nicht lokal oder gar individuell, sondern nur von der Bundespolitik gelöst werden kann, hat er nach 20 Jahren als niedergelassener Kassenarzt auch kein schlechtes Gewissen, jetzt vor allem privat zu praktizieren. Politisch würde er sich eine Bürgerversicherung, wie in der Schweiz wünschen, in die alle Versicherten einzahlen müssen.

Dass das Gesundheitssystem inzwischen „knallhart wie ein Markt funktioniert“ und von Rationalisierung geprägt wird, hält Lange für ethisch bedenklich, sieht darin aber auch die Folgen einer Gesundheitspolitik, die sich zu wenig gegen Lobbyinteressen durchsetzen kann und den Menschen auch keinen reinen Wein einschenkt, wenn es um die finanziellen Konsequenzen des medizinischen Fortschritts und des demografischen Wandels geht. Stattdessen würden die Bürger in den Glauben gelassen: „In der Gesundheit gibt es alles umsonst.“ Andererseits erlebt er in seiner Praxis, „in der wir für jeden eine Lösung finden“ auch Privatpatienten, die aufgrund ihres Versicherungstarifes einen hohen Eigenanteil von bis zu 2000 Euro pro Jahr zahlen müssen „und sich deshalb zwei- oder dreimal überlegen, ob sie zum Arzt gehen.“

Auch Langes Kollege, der Urologe Michael Berse, der als Kassenarzt in Duisburg und seit Anfang Oktober als Privatarzt in der Gemeinschaftspraxis Prinzenhöhe praktiziert, bestätigt Brocks und Langes Einschätzung im Kern und sieht das Modell, die Betriebskosten einer kassenärztlichen Praxis durch eine Privatpraxis querzufinanzieren, als „aus der Not geborene Lösung“ an. Dabei sieht der an der Prinzenhöhe praktizierende Urologe die Stadtteile Saarn, Speldorf und Broich „als nicht unattraktiv“ an, weil es hier wenige Urologen, aber viele Privatpatienten gibt. Berse sagt, dass die Pauschale, die er und seine Facharztkollegen von der gesetzlichen Krankenversicherung pro Patient und Quartal bekommen, seit 2009 von 27 auf jetzt 14,42 Euro gesunken sei. Angesichts des demografischen Wandels und der Kosten des medizinischen Fortschritts befürchtet er, dass das auf dem Generationenvertrag beruhende System der gesetzlichen Krankenversicherung langfristig „vor die Pumpe läuft“ und deshalb auf ein kapitalgedecktes System umgestellt werden muss, in dem jeder für sich selber vorsorgt und zahlt.

Mülheims FDP-Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, ist sich mit Nina Schultes vom Verband der Privaten Krankenversicherungen und Sybille Schneider von der privaten DKV einig, dass die Koexistenz der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherungen das international renommierte deutsche Gesundheitssystem eher stabilisiert und einen Wettbewerb herstellt, der Leistungseinschränkungen und einer Zweiklassenmedizin entgegenwirkt. Flach verweist auf zusätzliche sieben Milliarden Euro, die seit 2008 in die Ärztehonorierung geflossen seien.

Dieser Text erschien am 5. Dezember 2012 in der NEUEN RUHR ZEITUNG

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