Montag, 31. Dezember 2012

Das Beispiel von Dirk und Heike Hempel zeigt: Das Thema Pflege betrifft nicht nur ältere Menschen und geht uns alle an

Es gibt Tage, die ein Leben total verändern. Einen solchen Tag erlebten Heike Hempel (55) und ihr Mann Dirk (56) am 4. Dezember 2007. Damals waren sie gerade mal eineinhalb Jahre verheiratet, hatten in Saarn ein Haus gebaut und zehrten von den schönen Erinnerungen an einen gemeinsamen Urlaub auf Ibiza. Beide hatten einen Beruf, der sie erfüllte und ernährte. Sie als Friseurin, er als Mitarbeiter des Kommunalen Sozialen Dienstes. Alles schien perfekt. Doch dann kam dieser Schicksalstag, an dem Heike in dem Friseursalon, in dem sie damals arbeitete plötzlich bewusstlos zusammenbrach: Wir hatten fünf Minuten vorher noch miteinander telefoniert, erinnert sich Dirk Hempel. Als dann kurz darauf noch mal das Handy klingelte, fragte ich nur: „Ist noch was, Heike?“ Doch am anderen Ende der Leitung war nicht Heike, sondern ein Kollege aus dem Friseursalon, der ihm mitteilte: „Mit deiner Frau ist etwas schlimmes passiert und es sieht gar nicht gut aus.“ Plötzlich hatte ich Todesangst und alles lief wie in einem Film ab, erinnert sich Hempel an seine Gefühlslage im damaligen Ausnahmezustand.


In der Klinik stellte man eine Gehirnblutung fest und musste die Schädeldecke öffnen, um das Blut, das sich in Heikes Gehirn gestaut hatte, ablaufen zu lassen. Sie musste in ein künstliches Koma versetzt werden. Doch es kam noch schlimmer. Drei Tage später erlitt Heike einen Schlaganfall, der sie halbseitig lähmte. Der junge Arzt, der mir die Diagnose am Telefon mitteilte, hat sie wie einen Wetterbericht vorgelesen und eine seiner Kolleginnen meinte nur: „Was wollen Sie, ihre Frau wird nie wieder gehen oder sprechen können.“

Noch heute ärgert sich Hempel über das fehlende Einfühlungsvermögen der jungen Ärzte. Gott sei Dank sollten sie nicht Recht behalten. Fünf Jahre nach ihrem Schlaganfall kann sich Heike Hempel mit ihrem Mann wieder unterhalten, und mit einer Gehhilfe einige Meter zu Fuß zurücklegen. Für Fremde klingt ihre Sprache verwaschen, aber ich kann sie schon wieder gut verstehen. Man hört sich da relativ schnell ein, sagt Dirk Hempel. Dass sie mich vielleicht gar nicht mehr versteht oder erkennt, war damals meine größte Angst, erinnert sich Hempel an die fünf Wochen, in denen seine Frau im Koma lag. Sie selbst kann sich im Rückblick nur noch an Sirenengeheul, an ihre Lieblingsmusik von Café del Mare, die ihr Mann mit ins Krankenhaus brachte und daran erinnern, dass sie in einem Todesnähenerlebnis wie magisch von einem warmen und kraftvollen Licht angezogen wurde, bevor ihr bedeutet wurde: Du musst zurück ins Leben. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.

Wer Dirk und Heike Hempel anschaut, merkt sofort, dass sie durch den gemeinsam getragenen Schicksalsschlag stark geworden sind und sich auch ohne Worte verstehen. Im Zweifel reicht ihnen eine Geste oder ein Lächeln. Unsere Beziehung ist stärker und intensiver geworden, sind sich beide einig. Doch sie beschönigen ihre Situation auch nicht. Wir haben nur noch wenige Freunde. Viele sogenannte Freunde haben sich zurückgezogen, weil sie mit der belastenden Situation nicht umgehen konnten, berichtet Dirk Hempel. Ich habe doch nichts Ansteckendes, sagt seine Frau Heike. Sie findet es schade, dass viele Menschen, mit denen sie auch durch ihren früheren Beruf persönlich verbunden war, den Kontakt zu ihr abgebrochen haben. Ich habe meinen Beruf, den ich aufgeben musste, und den damit verbundenen Umgang mit Menschen immer geliebt, erinnert sich Heike Hempel. Und ihr Mann Dirk meint: Man ist in einer Situation, wie der unseren schon verdammt allein. Wenn man ihn nach Menschen fragt, denen er in seinen schwersten Stunden vorbehaltlos sein Herz ausschütten konnte, fallen ihm nur seine 83-jährige Mutter und ein Krankenhausseelsorger ein.

Während Dirk Hempel durch seinen Beruf viele soziale Kontakte hat, beschränken sich die sozialen Kontakte seiner Frau auf ihn, eine Pflegekraft, die drei Mal pro Woche ins Haus kommt, ihre Sprache- und Bewegungstherapeuten und auf die hochbetagten Teilnehmer einer Tagespflegegruppe im Ruhrgarten. Das geht schon ans Selbstbewusstsein, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr zu können, was man früher konnte und nur wenige etwas mit einem zu tun haben wollen, sagt Heike Hempel. Deshalb hat sie auch lange mit ihrem Schicksal gehadert. Heute kann ich mit meinem Schicksal schon etwas besser umgehen. Aber lange Zeit war ich sauer und habe mich immer wieder gefragt: Warum ist gerade mir das passiert, erinnert sich die 55-Jährige.

Heute regen wir uns nicht mehr über alltägliche Lappalien auf, sondern wissen, dass der wahre Reichtum darin besteht, ein ganz normales Leben zu führen, beschreiben die Eheleute die wichtigste Veränderung in ihrem Leben vor und nach dem 4. Dezember 2007. Die schönsten Stunden in unserem Leben sind die, in denen wir das Gefühl haben, am normalen Leben teilzunehmen, etwa bei Eisessen im Café oder bei einem Restaurantbesuch. Und in diesem Sommer waren sie nach fünf Jahren Zwangspause zum ersten Mal wieder auf ihrer Lieblingsinsel Ibiza. Der Reiseveranstalter und die Fluggesellschaft haben sich wirklich gut auf uns eingestellt, aber versuchen Sie mal auf Ibiza eine behindertengerechte Toilette zu finden, schildert Hempel seine Urlaubserinnerungen jenseits von Sonne und Strand.

Für ihren Alltag wünscht sich Heike Hempel vor allem mehr soziale Kontakte zu gleichaltrigen Leidensgenossen. Die meisten Pflegeangebote sind heute auf alte und demente Menschen ausgerichtet, weiß Dirk Hempel. Deshalb arbeiten seine Frau und er derzeit daran, mit Hilfe des kommunalen Pflegestützpunktes an der Bülowstraße in Broich und eines Pflegedienstes daran, einen privaten Kreis von jüngeren Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen aufzubauen. Dirk Hempel räumt ein, dass dieses Anliegen nicht nur einen sozialen, sondern auch einen finanziellen Mehrwert für die Betroffenen haben könnte, wenn sie so gemeinsam ein oder zwei Pflegekräfte finanzieren könnte. Denn neben der sozialen und psychologischen Dimension hat das Thema Pflege auch einen erheblichen finanziellen Aspekt. Da kommen erhebliche Kosten auf einen zu, weiß Dirk Hempel. Er schätzt, dass er mit Blick auf Betreuung, Therapien und Hilfsmittel monatlich genauso viel privat aufbringen muss, wie er von der Pflegeversicherung bekommt, nämlich rund 1200 Euro. Man muss sich vor Augen führen, dass die Pflegeversicherung nur eine Teilkaskoversicherung ist und das pflegende Angehörige helfen, sehr viel höhere Kosten für eine stationäre Pflege zu sparen, betont Hempel.

Die Hempels, die gerade auf ihren ersten gemeinsamen Waldspaziergang seit 2007 hinarbeiten, wissen bei aller Liebe und Zuwendung füreinander, dass man immer wieder den Akku aufladen und neue Kraft schöpfen muss, um gemeinsam durchzuhalten und ans Ziel zu kommen.Die Gewichte in unserem Alltag haben sich verschoben. Früher hat sich jeder selbst um seine Belange gekümmert. Heute ruht mehr Arbeit auf meinen Schultern. Das fängt schon beim morgendlichen Waschen, Anziehen und frühstücken an, erzählt Dirk Hempel. Das habe ich immer gerne gemacht, betont Heike Hempel, wenn ihr Mann erzählt, dass seine Frau ihn früher auch essenstechnisch immer verwöhnt habe. Heute muss er zu Hause das Küchenregiment führen und setzt dabei auf die schnelle Küche mit kleinen Mahlzeiten. Kann ihr Mann gut kochen? Heike Hempel beantwortet die Frage mit einem eindeutigen Lachen und schüttelt den Kopf. Aber Liebe geht ja Gott sei Dank nicht nur durch den Magen. Man merkt es, wenn Heike und Dirk Hempel auf der Terrasse ihres Hauses die sanfte Dezembersonne genießen. Und sich schon mal auf ihren ersten Waldspaziergang freuen.

Dieser Text ist am 29. Dezember 2012 in der NEUEN RUHR ZEITUNG erschienen


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