Mittwoch, 27. März 2024

100 Plus

Wenn man 100 Jahre alt wird, wie das der Mülheimer Jurist Raymund Krause jetzt geschafft hat, kann man was erzählen.

In seinem Falle ist es zum Beispiel die Geschichte seines Vaters. Der war wie die Mutter Volksschullehrer. Er trat 1933 in die NSDAP ein, weil er im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte und die "Kriegsschuldlüge des Versailler Friedensvertrages", wie er sie bezeichnete, durch einen Revanche-Krieg getilgt wissen wollte.

Es ist aber auch die Geschichte seiner Mutter, von der er erzählen kann. Auch sie oder war Volksschullehrerin. Sie musste aber nach 10 Jahren im Schuldienst 1923 als Frühpensionärin wider Willen aus dem Schuldienst ausscheiden, da die Herren der Schöpfung und des Schulverwaltungsamtes der Ansicht waren, dass eine mitverdienende und berufstätige Ehefrau zugunsten alleinverdienender Familienväter beruflich zurücktreten hatte.

Krauses früheste Erinnerung ist die seines ersten Schultages nach Ostern im Weltwirtschaftskrisenjahr 1930. Als einziger ABC-Schütze seiner ersten Klasse an der Evangelischen Volkschule an der Mellinghofer Straße stand er ohne Schultüte da. Denn seinen Eltern war es peinlich, wenn er als einziger mit einer Schultüte zum Schulstart angetreten wäre, während seine oft aus armen Verhältnissen stammenden Mitschüler und Mitschülerinnen ohne Süßes zum Beginn des Schullebens dagestanden hätten. "Meine Mutter hatte aber Gott sei Dank vorgesorgt. Und ich bekam die Schultüte anschließend daheim", erinnert sich der Nestor im Wohnzimmer seiner Wohnung an der Schloßstraße.

Er gehörte als Mülheimer des Jahrgangs 1924 und als Abiturient das Jahrgangs 1942 zur Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Wenige Tage nach seinem Abitur, das er unter anderem mit einem Aufsatz zur "erzieherischen Wirkung eines Militärs" bestanden, wurde er zur Luftwaffe eingezogen. Seine bereits erfolgte Einschreibung zum Jurastudium in Marburg musste er revidieren und stattdessen eine Ausbildung zum Bordfunker absolvieren. Krause hatte Glück im Unglück des Krieges. Mehr als einmal überlebte er eine Bruchlandung. Einmal war sein Retter in der Not eine Mülheimer Mitbürger, wie sich an der Absturzstelle herausstellte. 

Nach dem Kriegsende hatte er wieder Glück. Er nicht in sowjetische, sondern in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Und nach einem Arbeitseinsatz bei einem Landwirt von Bayern wurde er vorzeitig zurück an die Ruhr geschickt. Weil sein Elternhaus an der Aktienstraße ausgebombt worden war, musste er bei seinem unverheirateten Tanten einziehen. Deren Haus im Dichterviertel hatte die 161 Luftangriffe auf Mülheim unbeschadet überstanden.

"Ich habe meine jüngere Schwester gar nicht wiedererkannt, weil ich sie fünf Jahre nicht gesehen hatte", erinnert sich Krause an das Wiedersehen mit den Eltern und der Schwester, die 1947 aus der kriegsbedingten Landverschickung heimkehrten. Er selber verdiente sich als kaufmännischer Angestellter bei einem Werkzeughändler das Geld für den Start ins Jurastudium, das er 1950 mit einem Staatsexamen und einer Doktorarbeit abschließen konnte. 

Als junger Richter wurde Krause im Wirtschaftswunder-Deutschland mit den Folgen der nationalsozialistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Denn er musste unter anderem Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfälle von Menschen verhandeln, deren Angehörige Opfer des Holocaust geworden waren. Sein ganz persönliches Wirtschaftswunder erlebte er 1957 als er sich einen schwarzen VW Käfer mit dem damals typischen kleinen Rückfenster für 3000 Mark kaufen konnte. 

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