Donnerstag, 12. August 2021

Wie Willy Brandt in Mülheim wirkte

 Vor 60 Jahren geht Mülheim im Schatten des Berliner Mauerbaues zur Bundestagswahl. Was Willy Brandt als „deutscher Kennedy“ damit zu tun hatte.

Schaut man auf die Mülheimer Bundestagswahlgeschichte, fällt auf, dass die SPD seit 60 Jahren das Mülheimer Direktmandat gewonnen hat, bei der Bundestagswahl 2017 aber nur noch mit einem Vorsprung von 3,5 Prozentpunkten. Vor 60 Jahren gehen die Mülheimerinnen und Mülheimer im Schatten des Berliner Mauerbaues vom 13. August 1961 zur Wahl. Die SPD und ihr Direktkandidat Otto Striebeck können von der Popularität des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin und SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt profitieren.

Bei den Bundestagswahlen von 1953 und 1957 haben die CDU-Kandidaten Gisela Prätorius und Max Vehar von der Popularität des amtierenden Bundeskanzlers Konrad Adenauer profitieren können und den damaligen Mülheimer Stadtwahlkreis 88 mit relativer Mehrheit gewonnen. Vor allem die Wahl 1957 wird angesichts des wachsenden Wohlstandes in der Bundesrepublik und der von Adenauer erreichten Heimkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zum Triumph für die Christdemokraten. Bundesweit gewinnen sie damals die absolute Mehrheit.

Doch der Berliner Mauerbau mischt die Wahlkampfkarten 1961 neu. Der Regierende Bürgermeister Westberlins, Willy Brandt, kann sich als Fürsprecher der geteilten Stadt profilieren und mit einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Kennedy die Forderung nach einer entschiedenen Antwort der Westmächte auf den Mauerbau formulieren.

Konrad Adenauer, der erst zehn Tage nach dem Mauerbau nach Berlin reist, weil er die Situation deeskalieren und einen Krieg verhindern will, wirkt in den Augen vieler Deutscher zögerlich. Obwohl der 1913 geborene Brandt vier Jahre älter als der 1960 gewählte US-Präsident Kennedy ist, stellt die SPD ihren Kanzlerkandidaten Willy Brandt 1961 wie einen „deutschen Kennedy“ als jungen und dynamischen Reformpolitiker dar.

Der 1876 geborene Adenauer und seine CDU setzen dagegen im Wahlkampf auf den wirtschaftlichen Wohlstand der Bundesrepublik und erinnern die Bürger daran, dass die Bundesrepublik gerade in weltpolitischen Krisenzeiten eine starke und erfahrene Regierung unter der Führung von Konrad Adenauer und seinem populären Wirtschaftsminister Ludwig Erhard brauche.

Vor diesem Hintergrund führen auch die Hauptaspiranten auf das Mülheimer Direktmandat, Max Vehar (CDU) und Otto Striebeck (SPD), einen harten Wahlkampf. Das Argument der Jugend kann in Mülheim aber eher der 1910 geborene Vehar als der 1894 geborene Striebeck für sich in Anspruch nehmen. Bei einer Diskussion, zu der der Deutsche Gewerkschaftsbund zehn Tage vor der Wahl in die Stadtteile einlädt, verteidigt Max Vehar Adenauers Regierungspolitik und will unter dem Eindruck des Mauerbaus eine mögliche Verlängerung der Wehrpflicht nicht ausschließen. Er warnt davor, die seit 1949 von Adenauer erreichten Erfolge aufs Spiel zu setzen.

Sein Hauptkontrahent Otto Striebeck lehnt dagegen eine weitere Verlängerung der Wehrpflicht ab und kritisiert die Pläne der Bundesregierung für eine Notstandsgesetzgebung, die im Krisenfall das Streikrecht einschränken sollte. Auf der Linie seiner Partei erklärt Striebeck die Deutschlandpolitik Adenauers als gescheitert und empfiehlt Willy Brandt als den jüngeren, aktiveren und zeitgemäßeren Bundeskanzler.

Während Otto Striebeck Unterstützung vom SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt bekommt, der 1961 fordert „Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden!“, schickt die CDU ihren Bundesverteidigungsminister Kai Uwe von Hassel als Wahlkampfhelfer für Max Vehar in die Ruhrstadt.

Der Journalist Otto Striebeck und der Speditionskaufmann Vehar gehören 1961 dem Stadtrat und dem Bundestag an. Ihr FDP-Mitbewerber, der Jurist und Industriekaufmann Dr. Heinz Lange, sitzt damals im Landtag. Vehar engagiert sich als Verkehrs- und Striebeck als Umweltpolitiker. 1959 hat Vehar vergeblich versucht, die Schließung des seit 1874 bestehenden Eisenbahnausbesserungswerkes Speldorf zu verhindern.

Im September 1957 hat Vehar mit 844 Stimmen Vorsprung das Mülheimer Direktmandat gewonnen. Doch am 17. September 1961 holt sein SPD-Gegenkandidat Striebeck mit einem Zehn-Prozent-Vorsprung das Mülheimer Direktmandat zurück, das er bei der ersten Bundestagswahl im August 1949 gewonnen hatte. Vehar und Lange landen weit hinter ihm auf den Plätzen 2 und 3.

„Wir haben im Wahlkampf Aufwind und Vertrauen gespürt, aber mit so einem großen Erfolg konnte man nicht rechnen“, freut sich Striebeck, nachdem sein Parteifreund Oberstadtdirektor Bernhard Witthaus am 17. September 1961 um 21.17 Uhr das Wahlergebnis und die fast 88-prozentige Wahlbeteiligung bekannt gegeben hat.

„Wir sind enttäuscht, aber wir sind Demokraten, die vor der Wahl ihre Pflicht getan haben. Wir gratulieren Otto Striebeck und bereiten jetzt die nächste Wahl vor“, sagt der unterlegene Vehar, der später über die CDU-Landesliste doch noch in den Bundestag einziehen wird.

Striebeck hat seinen Wahlsieg 1961 mit der Wahlkampfhilfe des populären SPD-Oberbürgermeisters Heinrich Thöne errungen. Thöne ist zur Symbolfigur des Mülheimer Wiederaufbaus geworden und hat im Frühjahr 1961 die Kommunalwahl mit absoluter Mehrheit gewonnen.

So wählten die Mülheimer 1961

Bei der Bundestagswahl 1961 haben 118.000 der 134.000 Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, davon 9000 als Briefwähler. Wahlberechtigt ist man 1961 erst mit 21 Jahren.

Neben SPD, CDU und FDP stehen auch der kaufmännische Angestellte Gustav Bressert von der nationalkonservativen Gesamtdeutschen Partei, die Lehrerin Rosemarie Steinvorth von der linken Deutschen Friedensunion und Herbert Wohlgemut von der rechten Deutschen Reichspartei als Direktkandidaten auf dem Mülheimer Wahlzettel.

Die SPD gewinnt 48 Prozent der Erst- und 52 Prozent der Zweitstimmen. Die CDU gewinnt 38 Prozent der Erst- und 35 Prozent der Zweitstimmen. Die FDP gewinnt 9 Prozent der Erst- und 11 Prozent der Zweitstimmen. Die anderen Parteien erhalten deutlich weniger als 5 Prozent der Erst- und Zweitstimmen.

Bundesweit verliert die CDU 1961 5 Prozent ihrer Stimmen und damit ihre absolute Mehrheit. Die FDP gewinnt 5 Prozent Stimmen mehr als 1957. Eine sozialliberale Koalition wäre rechnerisch möglich. In der Stinnes-Villa an der Bismarckstraße führen SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt und FDP-Chef Erich Mende zehn Tage nach der Wahl am Ende erfolglose Sondierungsgespräche.

Weil die FDP sich für eine Koalition mit der Union entscheidet, bleibt die SPD in der Opposition, obwohl sie bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 4,5 Prozent zugelegt hat. Zum Vergleich: Lag die Wahlbeteiligung im Mülheimer Wahlkreis 1961 bei 87,6 Prozent, so waren es bei der letzten Bundestagswahl 2017 nur 76,1 Prozent.

NRZ/WAZ, 06.08.2021

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