Freitag, 19. Februar 2021

Eine Mülheimer Familiengeschichte

 Eigentlich dreht der Journalist Marcel Kolvenbach dokumentarische Filmbeiträge für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Oder er unterrichtet als Professor die Studierenden der Kunst- und Medien-Hochschule Köln. Doch jetzt schaute der Dokumentarfilmer auf einen Dreh im Haus der Stadtgeschichte an der Von-Graefe-Straße vorbei. Bisher hatte er von Mülheim nur das Theater an der Ruhr gesehen.

Seine filmreife Hauptdarstellerin war Stadtarchivarin Annett Fercho. Denn Kolvenbach dreht einen Film über seine Familiengeschichte. Und Fercho hat ihm bei der Recherche geholfen. Sie lieferte ihm die Standesamts- und Einwohnermeldekarteikarten. Die beleuchten das Leben und Schicksal seines "Großvaters" Fritz Kann, der am 31. Dezember 1898 in Mülheim das Licht der Welt erblickt hat und hier die heutige Karl-Ziegler-Schule besucht hat. Seine Eltern Simon und Lina betrieben an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, die damals noch Hindenburgstraße hieß, eine Metzgerei. Doch in Mülheim begann, nach 13 Lebensjahren in Düsseldorf am 21. April 1942 auch seine Fahrt in den Tod. Denn Fritz Kahn, dessen Einwohnermeldekarte den Beruf Arbeiter anzeigt, war Jude und er wurde wie 270 Mülheimer Juden zum Holocaust-Opfer. Von den 290 Juden, die ab 1941 aus Mülheim deportiert wurden, kehrten 27 ab 1945 nach Mülheim zurück. Als junger Mann war Fritz Kann Teil einer damals aus 700 jüdischen Bürgern bestehenden Gemeinde, die sich 1907 eine sehr repräsentative Synagoge am Viktoriaplatz bauen konnte. Der Platz heißt seit 2009 Platz der Alten Synagoge und erinnert daran, dass diese Synagoge, die bei ihrer Einweihung im August 1907 von der Lokalpresse als "eine Zierde der Stadt" gefeiert wurde, in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in den Flammen des nationalsozialistischen Hasses auf alles Jüdische verbrannte. Mülheims Feuerwehrchef Alfred Fretr half dienstbeflissen mit, obwohl das jüdische Gotteshaus bereits im Oktober 1938 in den Besitz der Stadtsparkasse übergegangen war.


Von der Heimatstadt in den Holocaust

Als Fritz Kann 1941 in seine Heimatstadt zurückkehrte tat er das nicht freiwillig. Als Jude hatte er sich von seiner katholischen Ehefrau Christine Caroline, die er 1927 in Düsseldorf geheiratet hatte, scheiden lassen müssen. Die Scheidung wurde von den NS-Machthabern auf der Grundlage ihrer 1935 in Nürnberg verabschiedeten Rassegesetze von Staats wegen aufgelöst. Denn jüdische und andersgläubige Frauen und Männer durften in Hitlers Deutschland kein Liebespaar und schon gar kein Ehe- oder Elternpaar sein. Weil Fritz Kann seine katholische Ehefrau und die gemeinsamen Kinder Horst und Albert vor der politisch von den Nationalsozialisten gewollten Verfolgung und Vernichtung schützen wollte, ließ er sich scheiden und kehrte in seine Heimatstadt Mülheim zurück. Dort wurde er in sogenannte Judenhäuser, zunächst an der Düsseldorfer Straße 16 und dann am Scharpenberg 42 mit Glaubens- und Leidensgenossen einquartiert. Es waren zwei von stadtweit zehn Judenhäusern. Von hier aus wurde nicht nur er am 21. April 1942 von der Polizei abgeholt und zum damaligen Hauptbahnhof, dem heutigen Bahnhof West an der Friedrich-Ebert-Straße eskortiert. Es passte in die Zeit, dass diese heute nach dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten der Weimarer Republik benannte Straße damals noch den Namen seines Nachfolgers Paul von Hindenburg trug. Denn Hindenburg hat sich als General im Ersten Weltkrieg die Anerkennung seiner Landsleute verdient. 1933 hatte der Stadtrat ihn und den von ihm ernannten Reichskanzler Adolf Hitler zu Ehrenbürgern Mülheims gemacht. Doch ihren jüdischen Mitbürger Fritz Kann wollten die Mülheimer 1942 nicht mehr unter sich haben. Seine Deportation begann am Mülheimer Hauptbahnhof und führte ihn, wie seine jüdischen Mitbürger, zunächst nach Düsseldorf. Dort mussten sich Kann, dessen Geburtsurkunde den ab 1941 staatlich verordneten Zusatznamen "Israel" auswies, mit seinen Leidensgenossen im Schlachthof zur Abfahrt ins polnische Transit-Ghetto Izbica einfinden. Von Izbica aus führt ihn sein Leidensweg dann ins Vernichtungslager Auschwitz. Wann Fritz Kann dort ermordet wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Seine Einwohnermeldekarte weist nur aus, das er 1957 auf Beschluss des Amtsgerichtes Mülheim rückwirkend zum 31. Dezember 1945 für tot erklärt worden ist.

Marcel Kolvenbach sagt angesichts seiner schwierigen Spurensuche, die ihn auch für Zeitzeugen-Interviews nach Argentinien geführt hat: "Die Hollywood-Variante sieht so aus: Mein Großvater und meine Großmutter haben sich vor seiner Deportation noch einmal getroffen und in einer letzten gemeinsamen Liebesnacht meinen Vater Hans-Jürgen gezeugt, der genau neun Monate nach Fritz Kanns Deportation zur Welt kam. Wahrscheinlicher ist aber die profane Variante, dass mein Vater der leibliche Sohn des Mannes war, den ich als meinen Großvater kennengelernt habe. Mein Großvater Johann Jakob Maria Kolvenbach hatte meine Großmutter, die nach der Zwangsscheidung mit zwei Jungs alleine stand und als Kellnerin ihren Lebensunterhalt verdienen musste, geheiratet und sich so um sie und ihre Kinder gekümmert. Und wahrscheinlich hat meine Großmutter damals schon die Hoffnung verloren, ihren ersten Ehemann und den Vater ihrer erstgeborenen Söhne noch einmal lebend wiederzusehen," beschreibt Marcel Kolvenbach die Geschichte seiner aus der Not heraus entstanden Patchworkfamilie."


Finanzielle und fachliche Förderung

Kolvenbach betont mit Blick auf seinen 90-minütigen Film, der zunächst in Kinos und bei Film-Festivals gezeigt werden soll: "Ich bin kein Historiker. Ich will nicht die große Weltgeschichte und eine ganz persönliche und menschliche Familiengeschichte erzählen." Es ist eine Familiengeschichte, die die menschliche Tragödie zeigt, die der Nationalsozialismus über Deutschland und die Welt gebracht hat. Insofern ist Kolvenbachs filmische Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte auch ein historisches und politisches Lehrstück. Deshalb wird es auch eine 45-minütige Filmfassung für Schulen geben. Die fachliche Unterstützung aus dem Mülheimer Stadtarchiv und die finanzielle Unterstützung des Filmstiftung NRW und der zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehörenden Stiftung BGAG Walter Hesselbach haben es möglich gemacht.


Erinnerung wachhalten

Wenn Marcel Kolvenbach im April seinen Film nach siebenjähriger Produktionszeit dem interessierten Publikum präsentieren kann, wird er dabei auch an Mülheim denken. Und schon jetzt denkt er mit Stadtarchivarin Annett Fercho darüber nach, seinen Dokumentarfilm über seinen Mülheimer Großvater Fritz Kann im Rahmen der Reihe zur Mülheimer Geschichte im Haus der Stadtgeschichte zu zeigen und seine Biografie auf der Internetseite des Stadtarchivs und mit einem Stolperstein vor seinem letzten frei gewählten Mülheimer Wohnsitz an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 73 vor dem Vergessen zu bewahren.

aus dem Lokalkompass der Mülheimer Woche vom 09.02.2021

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Weihnachten im Krieg

  Manchmal scheint es so, als lerne die Menschheit nichts aus ihrer Geschichte. Auch dieses Jahr ist Weihnachten ein Fest des Friedens, mitt...