Mit der Kaiserproklamation des preußischen Königs Wilhelm I. im Schloss von Versailles wurde vor 150 Jahren der erste deutsche Nationalstaat aus der Taufe gehoben. Zwei Jahre später stellten die Mülheimer auf ihrem Rathausmarkt ein Denkmal auf, das den gefallenen Mülheimer Soldaten des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) gewidmet war. Heute steht das alte Kriegerdenkmal am Wilhelmplatz zwischen Wilhelmstraße und Dohne. Etwa 30 Mülheimer mussten als Soldaten in diesem Krieg ihr Leben für die von Otto von Bismarck militärisch herbeigeführte Einigung mit ihrem Leben bezahlen. Doch auch dieser Blutzoll änderte nichts daran, dass auch die Mülheimer Lokalpresse den ersten Reichskanzler Otto von Bismarck bei jeder sich bietenden Gelegenheit als nationalen Heilsbringer feierte.
Die Mülheimer Bismarck-Begeisterung, die Teil eines übersteigerten deutschen Nationalismus war kam unter anderem darin zum Ausdruck, dass der Eiserne Kanzler 1895 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt und postum 1909 mit der Errichtung des Bismarckturms an der gleichnamigen Straße geehrt wurde. Mülheimer Straßennamen, wie Kaiser-Wilhelm-Straße, Kaiserstraße, Kaiser-Wilhelm-Platz Friedrichstraße, Goebenstraße, Zastrowstraße, Moltkestraße oder Sedanstraße erinnern bis heute im Vorbeigehen an die Zeit des Kaiserreichs und an dessen Monarchen und Generäle. Mit dem Sedanstag (2. September) feierten auch die Mülheimer den Tag der entscheidenden Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges als nationalen Feiertag. Ebenfalls als Nationalfeiertage wurden die Geburtstage der jeweils amtierenden Kaiser Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. gefeiert.
Das vor 150 Jahren gegründete Kaiserreich war auch für Mülheim eine von der Industrialisierung geprägte dynamische Epoche. Ab 1871 wurde im Styrumer Thyssen-Werk Eisen verarbeitet. Mülheim bekam ab 1880 seine Ruhranlagen, in denen Statuen von General Moltke, Preußens Königin Luise und Reichskanzler Bismarck grüßten. 3000 Bergleute fanden auf den örtlichen Zechen Wiesche, Humboldt und Rosenblumendelle Arbeit und Lohn.
Mülheim bekam mit Hilfe des 1879 vom Bürgermeister Karl von Bock gegründeten Verschönerungsvereins ab 1880 seine schönen Ruhranlagen, eine Volksbücherei (1883), einen Straßenbahnanschluss (1897), ein Amtsgericht (1902), ein Solbad mit Park am Raffelberg (1909), eine ebenfalls am Raffelberg gebaute Trapprennbahn (1910), die erste Schloßbrücke (1911), ein Stadtbad (1912) und ein Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung (1914). Auch das heutige Rathaus wurde, trotz des bereits begonnen Ersten Weltkrieges noch während des Kaiserreiches (1916) fertiggestellt.
Mülheim wurde Großstadt
Der ab 1904 regierende nationalliberale Oberbürgermeister Paul Lembke machte Mülheim in seiner bis 1928 dauernden Amtszeit zur Großstadt und wurde als Dank dafür am Ende seiner Amtszeit zum Mülheimer Ehrenbürger ernannt. Heute erinnert auch eine Lembkestraße am Kahlenberg an das tatkräftige Stadtoberhaupt der Kaiserzeit. Aufgrund seiner geschickten Eingemeindungspolitik hatte Mülheim 1908 die 100.000-Einwohner-Grenze zur Großstadt überschritten. Industrielle wie August Thyssen und Hugo Stinnes waren im Mülheim der Kaiserzeit nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch tonangebend. Denn das damals geltende preußische Drei-Klassen-Wahlrecht billigte ihnen als Spitzensteuerzahlern der Stadt in der ersten Steuer- und Wählerklasse ein Drittel der Stimmen zu, genauso viele wie den 75% der Mülheimer, die aufgrund ihrer geringen Steuerlast in der dritten Wähler- und Steuerzahler-Gruppe landeten. Kein Wunder, dass die Mülheimer Kommunalpolitik des Kaiserreiches vor allem von wirtschaftsfreundlichen Konservativen und Liberalen und nicht, wie später, von den Sozialdemokraten dominiert wurde. Hinzu kam. dass die Mülheimerinnen während des Kaiserreiches kein Wahlrecht hatten und auch Gewerkschaften und Streiks als illegal betrachtet wurden und deshalb von der Polizei, die sich als des Kaisers Stellvertreter auf der Straße sah, verfolgt und niedergeschlagen werden.
Ab 1899 Garnisonsstadt
Besonders stolz waren die Mülheimer der Kaiserzeit, dass ihre Stadt 1899 durch den Einzug des Infanterieregiments 159 eine florierende Garnisonsstadt wurde, So wie das Kaiserreich begonnen hatte, endete es auch im Herbst 1918, mit einem Krieg. "Gott segne die deutschen Waffen" hatte die Mülheimer Zeitung nach dem Kriegsbeginn im August 1914 getitelt. Vier Jahre später waren 3500 Mülheimer an den Fronten des Ersten Weltkrieges getötet. Mit dem Kriegsende wurde aus dem Kaiserreich eine Republik. Die Überlebenden des Infanterieregimentes 159 kehrten im Dezember 1918 in ihre Kaserne an der Kaiserstraße zurück und die Mülheimer Zeitung ersetzte den Kaiseradler in ihrem Titelkopf durch das Mülheimer Stadtwappen. Die seit 1872 erscheinende Mülheimer Zeitung war während des Kaiserreiches ein Verlautbarungsblatt, ohne politische Kommentare. Denn die Presse des Kaiserreiches erschien unter der polizeilichen Nachzensur. Stufte sie einen Bericht als staatsgefährdend, als groben Unfug oder als majestätsbeleidigend ein, drohten dem verantwortlichen Redakteur Geldbußen oder sogar Gefängnis.
Ironie der Geschichte: Wenn heute rechtsextreme Staatsgegner die schwarz-rot-weiße Fahne des Kaiserreiches bei Demonstrationen mit sich führen, ignorieren sie dabei die Tatsache, dass die Verfassung des Kaiserreiches, anders als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, keine bürgerlichen Grundrechte und deshalb auch keine Demonstrations- und Versammlungsfreiheit kannte.
Dieser Text erschien am 16.01.2020 im Mülheimer Lokalkompass
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