Montag, 21. März 2011

Angst, wie sie im Bilderbuch steht: Eine literarische Spurensuche in der katholischen Akademie Die Wolfsburg


Angst gilt im internationalen Vergleich als eine typisch deutsche Eigenschaft. Die German Angst wurde zum feststehenden Begriff für ein Land, in dem Verlust- und Existenzängste vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen von Inflation, Krieg und Diktatur besonders ausgeprägt sind und die aktuell vor allem in der Angst münden, dass unsere Gesellschaft den Wohlstand verlieren könnte, den uns das westdeutsche Wirtschaftswunder nach 1945 bescherte.

Wenn Eltern heute zum Beispiel um ihren Arbeitsplatz und das Familieneinkommen fürchten müssen, bekommen natürlich auch die Kinder die Angst zu spüren. Auch Grundschulkinder haben heute schon Schulstress und die durch ihre Eltern vermittelte Angst, den Leistungsansprüchen nicht genügen und damit Zukunftschancen nicht bekommen zu können.


"Doch diese realistischen Ängste, etwa vor Armut oder Missbrauch spielen in den Bilderbüchern keine Rolle. In den meisten Bilderbüchern herrscht immer noch der Trend zur heilen Welt vor." Stattdessen, so Linsmann weiter, würden vor allem die Angst vor dem Einschlafen, vor der Dunkelheit oder vor dem ersten Schultag beschrieben. Zu diesem Ergebnis kam Maria Linsmann bei einer Tagung zur Thematisierung der Angst in der Kinder und Jugendliteratur.
Auf Einladung des Medienforuns und der katholischen Akademie diskutierten 150 Bibliothekarinnen und Pädagoginnen jetzt darüber, wie Kinder- und Jugendliteratur dem Nachwuchs helfen kann, Ängste zu erkennen, auszudrücken und so zu verarbeiten. Gleich zum Auftakt der Tagung machte Akademieleiter Michael Schlagheck deutlich: "Angst gehört zu unserem Leben. Sie kann nicht vermieden werden. Angst begegnet uns mit einem Doppelgesicht, kann uns hemmen und lähmen, aber auch aktivieren, fördern, uns bei unserer Entwicklung helfen. Ein Leben ohne Angst wäre nicht denkbar, wäre geradezu fatal."

An einigen Beispielen konnte Linsmann in ihrem Vortrag aufzeigen, dass gerade das gute alte Bilderbuch Kindern in der pädagogisch prägenden Frühphase helfen kann, Ängste "zu verbalisieren, zu akzeptieren und so auch zu überwinden." Nicht nur Willi Wiberg, der seine Schulangst überwindet, als er feststellt, dass auch seine Lehrerin ihre Angst vor der neuen Klasse mit dem Kauf eines neuen Kleides und einem Besuch beim Friseur besänftigen musste, der Cowboy, der seine Angst vor Pferden überwinden muss und deshalb erst mal lieber Fahrrad fährt als zu reiten oder der Ritter Sir Fred, der seine Furcht vor der Dunkelheit erst durch ein nächtliches Rendezvous mit der Dame seines Herzens überwindet, sorgten im Auditorium für erhellende Heiterkeit. In der Diskussion waren sich die Tagungsteilnehmerinnen einig, dass Eltern ihren Kindern bei der Bilderbuchlektüre "mehr zutrauen sollten."


Warum Eltern, wie Linsmann feststellte, in der Regel vor dem Kauf von Bilderbüchern zurückschrecken, die schwierige und kritische Themen aufgreifen, beantwortete die Psychoanalytikerin Dagmar Lehmhaus mit ihrer These, dass Eltern immer noch den Anspruch hätten, für ihre Kinder angstfreie Räume zu schaffen." Das war, wie Bilderbuchexpertin Linsmann deutlich machte, noch bis in die 1950er Jahre anders, als Angst auch in der Kinderliteratur, siehe Struwwelpeter oder Max und Moritz, in der Kinderliteratur als Instrument der Abschreckung eingesetzt wurde, um Kinder zu regelgerechtem Verhalten zu erziehen.


"Wir bekommen hier wissenschaftlich fundierte Anregungen und Impulse", beschrieben die beiden Pädagoginnen Claudia Michels und Hella Theill den Mehrwert der literarischen Spurensuche in der Wolfsburg. Für beide steht fest, dass das Lesen und Vorlesen Kinder positiv prägt und in ihrer persönlichen Entwicklung stärkt. Sie sehen aber auch "einen immer größer werdenden sozialen Spalt" zwischen den Elternhäusern, in denen viel gelesen und vorgelesen wird und jenen, in denen es kein einziges Buch gibt.


Dieser Text erschien am 18. März 2011 im Ruhrwort

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