Mal ehrlich. Die meisten Gespräche beginnen mit der Frage: „Was machen Sie eigentlich beruflich?“ Auch wenn Großeltern oder Urgroßeltern aus ihrem Leben erzählen, drehen sich ihre Erinnerungen meistens um die Arbeit. Doch Arbeit ist bekanntlich nur das halbe Leben. Und so beleuchtete Stadtarchivar Kai Rawe in einem Vortrag, der rund 100 Zuhörer in die Alte Post lockte, die Freizeit der alten Mölmschen anno 1911.Was den Mülheimer des Jahres 2011 an seiner Zeitreise überraschte, war die Tatsache, dass es in Mülheim vor 100 Jahren fast 230 Gaststätten gab, die zum Teil über große Veranstaltungssäle verfügten. Der größte von ihnen war der in Eppinghofen gelegene Kirchholtes-Saal, der 1300 Gästen Platz bot und im Volksmund „Sinfoniescheune“ genannt wurde.
Dort gingen seit Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig Abonnementkonzerte und 1911 sogar einige Opernaufführungen über die Bühne. Am Dirigentenpult stand der später berühmte Hans Knappertsbusch, der damals, 24-jährig, seine Karriere in Mülheim begann. Opernaufführungen, wie der „Barbier von Sevilla“ sollten im Kirchholtschen Saal allerdings ein Intermezzo bleiben, weil sie sich wirtschaftlich nicht rechneten.Zunehmender Beliebtheit erfreute sich vor 100 Jahren das Kino, damals noch als kinematografische Aufführungen angekündigt wurden. Sie flimmerten zum Beispiel im Zentralhallentheater an der Leineweberstraße oder bei Meyers Lichtspiel über die Leinwand. Der unbestrittene Star jener Stummfilmtage war Asta Nielsen. Auf dem Kinoprogramm standen 1911 so schauerliche Filmtitel wie „Abgrund“ oder „Die Morphinistin“, aber auch die experimentelle Vorführung von Röntgenstrahlen. Letzteres war, wie man heute weiß, ein fast selbstmörderisches Freizeitvergnügen.Ganz ungefährlich erstrahlte das Zentralhallentheater an der Leineweberstraße und andere große Säle, wie im Kahlenbergrestaurant anno 1911 bei Bällen, Konzerten und Festbanketten, mit denen man zum Beispiel am 27. Januar den Geburtstag von Kaiser Wilhelm II. feierte.
Nicht ganz so gutbürgerlich, dafür aber frech-fröhlich ging es vor 100 Jahren im „Wilden Mann“ zu. Das Gasthaus an der Bachstraße machte vor allem mit seinen Damenorchestern Furore. Der Spaß an der Freude kam auch im Alhambra an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße nicht zu kurz. Dort wurden in der Fünften Jahreszeit 1911 Maskenbälle gefeiert, Karnevalskonzerte gegeben und Büttenreden geschwungen: „Alles jubelt. Alles lacht. Die neue Brücke Stimmung macht“ hieß es mit Blick auf die neu eröffnete Schloßbrücke.In einer Zeit, in der es weder Fernsehen noch Radio und auch noch keinen massenhaften Autoverkehr gab, suchten die damals rund 112. 000 Mülheimer ihr Freizeitvergnügen in zahlreichen Vereinen, Chören und Gaststätten vor der eigenen Haustür.
Das Kahlenbergrestaurant, das später zur Jugendherberge werden sollte, gehörte ebenso zu den beliebtesten Ausflugszielen der Stadt, wie Tersteegensruh im Witthausbusch, Haus Hammerstein im Uhlenhorst, das Rheinische Bauernhaus an der Delle, der Bürgergarten an der Aktienstraße oder das Monning-Viertel mit seinen zahlreichen Lokalitäten am Speldorfer Stadtrand.„Zur Arbeit gingen die meisten Menschen damals zu Fuß. Aber am Wochenende gönnten sie sich dann auf eine Straßenbahnfahrt ins Grüne, die damals noch ein echtes Erlebnis war“, schilderte Stadtarchivar Rawe in seinem Vortrag die mölmsche Freizeitmobilität der Kaiserzeit.Echte Publikumsmagneten jener Zeit waren auch die Broicher Kirmes, die 1911 mit den kleinen Pferden der Welt und mit sibirischen Wölfen aus dem Tierpark Hagenbeck lockte oder das Schützenfest der Selbecker St. Sebastianus-Bruderschaft, dass damals mit Umzügen, Musikkapellen, einem Ball, einem Feuerwerk und „anderen Volksbelustigungen“ auch in der Stadtmitte gefeiert wurde.
Dabei schlich sich auch die Politik in das scheinbar harmlose Freizeitvergnügen ein, wenn etwa die Militärmusiker des in Mülheim stationierten Infanterieregiments „patriotische Konzerte“ gaben oder bei einem marokkanischen Abend im Bürgergarten , bei dem der sogenannte „Panthersprung von Agadir“ nachgestellt wurde, mit dem das Kaiserreich durch die Entsendung eines Kanonenbootes nach Agadir 1911 seinen kolonialen Ambitionen Nachdruck verliehen hatte.
Dieser Beitrag erschien am 14. März 2011 in der NRZ
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