Vor 150 Jahren gründete August Thyssen (1842-1926) in Styrum sein erstes Stahlwerk. Welche Bedeutung hat das, nicht nur für Mülheim? Das erklärt der Wirtschaftshistoriker und Thyssen-Kenner Professor Dr. Horst A. Wessel, der bis zu seiner Pensionierung das Mülheimer Mannesmann-Archiv geleitet hat. Zusammen mit der Mülheimer Historikerin Dr. Barbara Kaufhold hat er die wissenschaftlichen Vorarbeiten für das Gründer- und Unternehmermuseum im Haus der Wirtschaft geleistet. Außerdem trat er zwischen 2010 und 2017 als Herausgeber der Buchreihe "Pioniere der Mülheimer Wirtschaft" hervor.
Warum gründete der aus Eschweiler stammende August Thyssen sein erstes Stahlwerk in Styrum?
Wessel: Er war seit 1867 Teilhaber des Duisburger Eisenwerkes Thyssen Fossoul und Co, wollte aber als Unternehmer selbstständig werden. Deshalb hat er seine Duisburger Unternehmensanteile mit fünffachem Gewinn verkauft und sich in Styrum umgeschaut. Hier gab es damals noch mehr freie Grundstücke und Arbeitskräfte als in Duisburg. Ursprünglich wollte Thyssen das Grundstück des Styrumer Marktplatzes für sein Werk kaufen, wurde mit dessen Eigentümer aber nicht handelseinig und schaute sich deshalb nach einem anderen Grundstück um. Schließlich wurde er mit der Familie Becker handelseinig, die unmittelbar an der Styrumer Bahnstrecke auf dem alten Heckhof eine Gerberei betrieb. Dort hat Thyssen dann sein erstes Stahl- und Walzwerk errichtet, in dem er ab 1878 auch Röhren produzieren ließ. Thyssen verstand es als in der Stahl- und Kohle-Industrie aktiver Unternehmer sein eigener Nachfrager zu werden und seine eignen Produkte immer wieder selbst weiterzuverarbeiten. Das machte ihn wirtschaftlich unabhängig.
Woher hatte Thyssen das Geld für seine Werksgründung?
Wessel: Das Geld kam aus einem väterlichen Kredit, Thyssens Vater Friedrich (1804-1877) war Bankier. Aber er selbst konnte durch den Verkaufserlös seiner Duisburger Unternehmensanteile auch eigenes Kapital einbringen. Insgesamt ging er mit einem Startkapital von 80.000 Talern ans Werk. Das entspricht nach heutiger Kaufkraft etwas mehr als 500.000 Euro. Später konnte Thyssen auch auf Kredite des Erzbistums Köln und einiger Klöster zurückgreifen.
Wie hat Thyssens Werk die Stadt verändert?
Wessel: Sein Styrumer Werk wurde zum Kern seines Konzerns, auch wenn seine Zechen in Duisburg lagen. Thyssen hat in Mülheim nicht nur eine moderne Gas,- sondern auch eine moderne Wasserversorgung ermöglicht. Als Thyssen 1871 nach Styrum kam war es ein zersiedelter Ort mit acht großen Höfen. Sein Werk hat für eine enorme Zuwanderung nach Styrum gesorgt. Viele der zugewanderten Arbeitskräfte waren, wie Thyssen selbst, katholisch. Sie sorgten dafür, dass es in Styrum, anders, als in den anderen Stadtteilen Mülheims eine katholische Bevölkerungsmehrheit gab. Styrum, dessen Bevölkerung sich innerhalb von 50 Jahren verzehnfachte, war zwischen 1878 und 1903 eine eigenständige Landbürgermeisterei. Thyssen hat in Styrum den Bau der Marienkirche wesentlich mitfinanziert. Er war Mitglied im Styrumer Gemeinderat und im Mülheimer Stadtrat. Das Franziskushaus und das alte Stadtbad an der Ruhr gingen auf seine Stiftung zurück. Deshalb wurde er 1912 auch Ehrenbürger Mülheims. Man darf aber nicht vergessen, dass sein jüngerer Bruder Josef (1844-1915) als Teilhaber ein Viertel des Firmenkapitals hielt und das Unternehmen nach dem Tod des Vaters 1877 zusammen mit seinem Bruder August leitete. Obwohl die Thyssens katholisch waren, unterstützten sie auch die diakonische Arbeit der evangelischen Kirchengemeinden.
August Thyssen war ein erfolgreicher Unternehmer. War er auch ein glücklicher Mensch?
Wessel: Als Mensch ist August Thyssen nicht glücklich geworden. Seine 1872 geschlossene Ehe mit der Mülheimer Fabrikantentochter Hedwig Pelzer-Troost (1854-1940) wurde geschieden, nachdem sie sich bei regelmäßigen Kuraufenthalten im Taunus mit dem hessischen Freiherrn Georg von Rotsmann (1836-1891) eingelassen hatte. Auch an seinen Kindern hatte August Thyssen nicht viel Freude. Es kam später auch zu gerichtlichen Erbstreitigkeiten. Man muss sehen, dass August Thyssen ein sehr vielbeschäftigter und umtriebiger Unternehmer war, der wenig Zeit für seine Familie hatte.
Warum hat August Thyssen seinen Konzern, der damals 65.000 Mitarbeiter beschäftigte, in seinem letzten Lebensjahr 1926 in die Vereinigten Stahlwerke eingebracht?
Wessel: Eigentlich wollte August Thyssen seinen ältesten Sohn Fritz (1873-1951) zu seinem Nachfolger machen. Er hat ihn auch entsprechend streng erzogen, musste dann aber einsehen, dass dessen Möglichkeiten nicht ausreichten, den Konzern eigenständig weiterzuführen und damit im internationalen Wettbewerb der großen Trusts zu bestehen. Dabei hat sich Fritz Thyssen im Bergbau verständig gezeigt und dort neue Techniken eingeführt. Hinzu kam, dass August Thyssen und sein Sohn Fritz in Folge der November-Revolution 1918 vom Mülheimer Arbeiter- und Soldatenrat verhaftet und erst nach einer Intervention des damaligen Oberbürgermeisters Paul Lembke wieder freigelassen worden waren. Damals sah er, wie schwach man als einzelner Unternehmer in politisch und wirtschaftlich wirren Zeiten war. Deshalb befürwortete er, nach dem Vorbild der IG Farben in der Chemischen Industrie die Bildung der Vereinigten Stahlwerke.
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