Was für uns heute das Corona-Virus, war für die Mülheimer im
Herbst 1918 die Spanische Grippe, die bis 1920 weltweit 50 Millionen und in
Deutschland etwa 500.000 Menschen zum Opfer fielen. Schaut man, wie jetzt
Stadtarchivar Jens Roepstorff, in die Mülheimer Lokalpresse der letzten Tage
des Ersten Weltkrieges, so stößt man auf den Hinweis, „dass sich das Gespenst
Spanischen Grippe auch in Mülheim breit macht.“ Nicht nur mit Blick auf das
Ruhrgebiet attestiert der Generalanzeiger, dass sich die Menschen „in einer
schwer zu beschreibenden Seelenverfassung sind.“ Das Ausmaß, das die Spanische
Grippe auch in unserer Stadt im Herbst 1918 angenommen hatte, machte der Generalanzeiger
unter anderem an den überfüllten Wartezimmern der örtlichen Ärzte fest.
Wie heute das Corona-Virus führte damals die Spanische
Grippe auch in Mülheim zu Schulschließungen, aber auch zur Ausdünnung von
Zugfahrplänen, weil immer mehr Schüler, Lehrer und Eisenbahnbedienstete an der
Spanischen Grippe erkrankt waren. Oberbürgermeister Paul Lembke forderte
Erkrankte und ihre Angehörigen dazu auf, auf den Besuch öffentlicher
Veranstaltungen zu verzichten. Auch Theater, Kinos und Straßenbahnwaggons
wurden als Ansteckungsherde ausgemacht. Erkrankten wurde strenge Bettruhe und
heißer Tee empfohlen.
Im Anzeigenteil der Lokalzeitung wird damals unter anderem auf
das Kaufangebot von Klosettpapier des an der Kohlenstraße ansässigen Händlers
Hermann Siepmann und auf die freitäglichen Sprechstunden des Lungenrates Dr.
Rhoden hingewiesen. Mitte Oktober 1918 lesen die Mülheimer im Generalanzeiger,
dass der Allgemeinen Ortskrankenkasse bisher nur leichte Fälle der Spanischen
Grippe gemeldet worden seien, und das die schlechte Versorgungslage und die
belastenden Lebensverhältnisse in der Stadt die Widerstandskräfte der Menschen
schwäche.
Erkrankten wird unter anderem Roter Rübensalat zur Senkung
der grippebedingten Fieberschübe empfohlen. Auch zum regelmäßigen Lüften der
Wohnräume, zum Gurgeln mit verdünntem Wasserstoffsuperoxyd und zur Einnahme von
Calcium- Wasser wird ebenso geraten wie dazu, grundsätzlich dem Umgang mit Grippeerkrankten
zu vermeiden und immer nur ins Taschentuch zu niesen. Das Calcium-Wasser, so
heißt es im Lokalblatt, könne man auch in der Suppe oder im Kaffee zu sich
nehmen und seinen Körper so mit dem Kalk versorgen, der die
Widerstandstätigkeit der weißen Blutkörperchen gegen die Grippeviren stärke.
Dieser Text erschien am 15. Mai 2020 in NRZ & WAZ
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