Samstag, 10. September 2011

Ein Blick in die Stadtgeschichte: Wie die Mülheimer vor 50 Jahren den Mauerbau in Berlin erlebten

Wenn wir heute an Flüchtlinge denken, denken wir an Menschen, die aus fernen Ländern zu uns kommen, weil sie vor Krieg und Verfolgung fliehen. Laut Ausländerbehörde leben in Mülheim derzeit 91 Asylbewerber aus dem Irak und aus verschiedenen afrikanischen Staaten, die als Asylbewerber in unserer Stadt Zuflucht gefunden haben.Flüchtlinge aus der ZoneVor 50 Jahren kamen die Flüchtlinge, die in Mülheim Zuflucht suchten aus Deutschland, nämlich aus der DDR, die damals noch als sowjetische besetzte Zone bezeichnet wurde. In den Wochen vor dem Mauerbau schwoll der Flüchtlingsstrom an. Anfang August 1961 ging die Stadtverwaltung von 1500 Zonenflüchtlingen aus, die in Mülheim untergebracht werden mussten, weil sie die Freiheit im Westen Deutschland dem realexistierenden Sozialismus im SED-Staat vorzogen. „Spitzbart und Brille sind nicht des Volkes Wille“ hieß es damals in einem Witz, der in der DDR hinter vorgehaltener Hand über Staats- und Parteichef Walter Ulbricht erzählt wurde.

Doch angesichts der Flüchtlingsströme und der Kriegsgefahr verging vielen Menschen im August 1961 das Lachen.Schon am 25. Juli 1961 hatte es in der Mülheimer NRZ geheißen: „Durch die anhaltende Flüchtlingswelle aus der Sowjetzone sieht sich jetzt auch Mülheim vor ein schwieriges Problem gestellt. Die Stadt muss etwa um die Hälfte mehr an Flüchtlingen aufnehmen, als die Jahresquote von 1961 vorsah. Und sie hat nicht genügend Platz für diese Menschen. Die Notquartiere sind allesamt belegt.“ Untergebracht werden die Zonenflüchtlinge damals zum Beispiel in der Speldorfer Hubertusburg, in einem eigentlich schon zum Abriss freigegebenen städtischen Gebäude an der Düsseldorfer Straße und in der ehemaligen Kaserne an der Kaiserstraße.

In ihrer Not prüft die Stadt auch die Möglichkeit, alte Gasthaussäle und Schulbaracken in Übergangsquartiere umzufunktionieren. Anders, als noch einige Jahre zuvor, als die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die Stadt kamen, gibt es 1961 in Mülheim nicht genug Bauland für schnelle Neubaumaßnahmen.„Das Problem kam sozusagen über Nacht auf uns zu. Wir sind vorher schon mehrfach damit fertig geworden. Weshalb sollte nicht auch diesmal wieder klappen“, verbreitet Stadtdirektor Niehoff in der NRZ.

Weniger Sorge, auch das wird in der damaligen Berichterstattung deutlich, machte 1961 die Frage nach der Berufsperspektive der neuen Mülheimer. Denn die meisten Flüchtlinge aus der DDR waren jung und gut ausgebildet. Und im Westen herrschte noch Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel. Viel schwerer wog im August 1961 die Sorge um den Weltfrieden. Denn in Berlin standen sich sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber. Ihren ohnmächtigen Protest gegen die Einmauerung ihrer Landsleute in der DDR drückten die Mülheimer im Stillen aus. Einem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes folgend ließen die Mülheimer am 15. August um 11 Uhr ihre Arbeit für zwei Minuten ruhen. Auch der Straßenverkehr wurde in dieser Zeit von der Polizei angehalten.

Am selben Tag schrieb Günter Heubach in der Mülheimer NRZ: „Ganz Mülheim stand unter dem Eindruck der vom Ostregime geschaffenen verschärften Situation. Einziges Thema auf den Straßen, in den Omnibussen und Straßenbahnen: Berlin. Offen sprechen die einheimischen Mülheimer ihre Meinung, aber auch ihre Besorgnis aus. Zurückhaltender sind die Zonenflüchtlinge, die erst vor wenigen Tagen in unserer Stadt eingetroffen sind. Ihre Gedanken gehen zurück zu der eben erst verlassenen Heimat, zu Eltern, Geschwistern und Verwandten, die noch drüben sind und nicht mehr durch den Eisernen Vorhang zu schlüpfen vermögen. Gemeinsam ist aber ist allen Äußerungen, dass der Westen nun nicht mehr nachgeben möge. Und: Bloß kein Krieg! heißt es immer wieder.“

28 Jahre später sollten im September 1989 wieder der DDR-Flüchtlinge, damals über Ungarn und Prag nach Mülheim kommen. Doch da waren die Tage der Berliner Mauer schon gezählt.

Dieser Text erschien am 13. August 2011 in der NRZ

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