Donnerstag, 19. August 2010

Was sagen sozialpolitische Praktiker zur möglichen Einführung einer Bildungschipkarte für Kinder aus Hartz-IV-Familien?

Bildung vom Nachhilfe- über den Musikschulunterricht bis zur Mitgliedschaft im Sportverein soll es für Kinder und Jugendliche aus Familien, die Arbeitslosengeld II beziehen, künftig per Chipkarte geben. Was sagen sozialpolitisch engagierte Mülheimer zum Vorschlag von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen? Die Ministerin reagiert damit auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das eine Neuberechnung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder fordert. Langfristig möchte von der Leyen die Bildungskarte mit Hilfe von Spenden und Sponsoring für alle Kinder einführen.

Die bei der Caritas für die sozialen Dienste zuständige Abteilungsleiterin Martina Pattberg findet es „grundsätzlich gut, wenn bildungsferne Familien gefördert werden“, sieht aber auch eine stigmatisierende Wirkung und weist darauf hin, dass auch Kinder aus Familien mit geringem Einkommen einen entsprechenden Bildungsbedarf hätten. „Ich sehe bei den Familien, mit denen wir arbeiten, keinen Missbrauch, sondern die Einstellung: Meinen Kindern soll es besser gehen als mir.“

Sozialamtsleiter Klaus Konietzka findet die Bildungschipkarte gut, „weil damit Bildungschancen erweitert werden.“ Er verweist in diesem Zusammenhang auf die positiven Erfahrungen mit dem Mülheim-Pass, mit dessen Hilfe derzeit 16 800 Mülheimer, die auf auf Sozialleistungen angewiesen sind, öffentliche Dienstleistungen auch aus den Bereichen Bildung und Kultur vergünstigt in Anspruch nehmen können.

Die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, Adelheid Zwilling , lehnt die Bildungs-Chipkarte für Kinder aus Hartz-IV-Familien als stigmatisierend ab. Das Geld für die Bildungschipkarte sähe sie lieber in die öffentliche Infrastruktur investiert, um zum Beispiel durch kostenlose Kindergartenplätze, Lernmittelfreiheit, flächendeckende Ganztagsschule inklusive Mahlzeiten und Weiterbildung sowie ein gebührenfreies Studium die Bildungschancen aller Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, erhöhen zu können.In die gleiche Richtung tendiert auch die Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Ursula Faupel . Eine Bildungschipkarte allein für Kinder aus Hartz-IV-Familien sieht sie als diskriminierend an. Gerade bildungsferne Familien erreicht man aus ihrer Sicht eher dann, wenn man entsprechende Bildungsangebote für ihre Kinder kostenlos und verpflichtend in Kindertagesstätten und Schulen flächendeckend einführen würde. Um einer Stigmatisierung vorzubeugen, empfiehlt der Sozialausschussvorsitzende Johannes Gliem die flächendeckende Einführung einer Bildungskarte für alle Kinder und Jugendlichen mit einer sozial gestaffelten Angebotspalette.

Die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Brigitte Mangen , begrüßt die Bildungschipkarte, „weil sie dafür sorgt, dass die Förderung auch bei denen ankommt, die sie brauchen.“ Da Kinder und Jugendliche heute in allen Lebensbereichen ganz selbstverständlich mit Chipkarten umgingen, glaubt Mangen, dass die Bildungscard von ihnen „eher als cool denn als diskriminierend“ empfunden würde.„Warum sollte das diskriminierend sein?“, fragt auch Rainer Könen von der Arbeitsuchendeninitiative Styrumer Treff. „Diskriminierend wäre es eher, wenn Kinder aus Hartz-IV-Familien Bildung und Kultur nicht wahrnehmen könnten, weil es so ein Angebot nicht gäbe“, betont er.

Auch der Geschäftsführer des Diakonischen Werkes, Hartwig Kistner , begrüßt die Karte, die in seinen Augen nicht diskriminiert, sondern finanzielle Leistungsgerechtigkeit schafft, indem sie der wissenschaftlich nachweisbaren Erkenntnis Rechnung trage, „dass Geldleistungen nicht immer dort ankommen, wo sie hingehen sollen.Angesichts der positiven Erfahrungen mit dem Mülheim-Pass begrüßt auch die stellvertretende Leiterin der Sozialagentur, Jennifer Neubauer , die Idee einer Bildungskarte, die man in den Mülheim-Pass integrieren könnte. Sie plädiert für eine dezentrale und kostengünstige Umsetzung durch die Kommunen.

Dieser Text erschien am 17. August 2010 in der NRZ

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