Endlich mal ein Tag zum Feiern. Das war der 9. November 1989, als Günter Schabowskis "Versprecher" bei einer Pressekonferenz des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei die Mauer zum Einsturz brachte, ohne sich dafür einen Gewaltakt anzutun.
Natürlich wissen wir heute, das Schabowskis Versprecher nur der Tropfen war, der das politische Fass der SED-Diktatur überlaufen ließ.
Ohne die vielen mutigen Freiheitsdemonstranten auf den Leipziger Straßen den 9. Oktober 1989, ohne die Einsicht Gorbatschows in die Notwendigkeit systemimanenter Reformen im realexistierenden kommunistischen Ostblock, der im Herbst 1989 an allen Ecken und Enden zerbröselte, hätte es keinen 9. November 1989 und keinen 3. Oktober 1990 geben können. Daran ändern auch die unbestreitbaren Verdienste des damaligen wesetdeutschen Bundeskanzler Kohl und seines Außenministers Hans-Dietrich Genscher nichts. Hinzu kam zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990, dass der damalige amerikanische US-Präsident George Bush senior, ebenso wie sein sowjetischer Amtskollege erkannte, was die historische Stunde geschlagen hatte und danach handelte.
Den Frankreichs damaliger Staatspräsident Mitterand und die britische Premierministerin Thatcher, hätten ohne die Achse Gorbatschow-Bush, auch nach dem 9. November 1989 nach der Devise gehandelt: "Wir lieben Deutschland so sehr, dass wir froh darüber sind, das es gleich zwei davon gibt. Dazu passte Mitterands Staatsbesuch in der nach dem Mauerfall politisch faktisch toten DDR.
Auch wenn Kohls Einheits-Euphorie der "blühenden Landschaften", in denen es niemanden schlechter, aber allen besser gehen werde, und die Transformation, ohne Steuererhöhungen, aus der bundesdeutschen Portokasse bezahlt werden könnten, die Vollendung der Deutschen Einheit ebenso bis heute belasten, wie die von der Treuhand, ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitschte Abwicklung der Volkseigenen Betriebe und Produktionsgenossenschaften in der nach dem 3. Oktober 1990 ehemaligen DDR.
Auch bei der Währungsumstellung auf der Basis 1:1 wurden die sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten der deutschen Wiedervereinigung nach mehr als 40 Jahren Teilung in Festtagsreden weggeredet.
Zugute halten muss man Kohl und Genscher, dass sie 1989/90 die Gunst der historischen Stunde, zum Beispiel in Form von Kohls Zehn-Punkte-Plan vom November 1989 erkannten und sofort nutzten, weil sie zurecht ahnten, dass sich das Zeitfenster für eine friedliche Wiedervereinigung schnell wieder schließen könnte. Das Gorbatschow schon im Jahr nach der Wiedervereinigung defacto weggeputscht wurde, bestätigte ihr Kalkül.
Zumindest zwischen dem November 1989 und dem Oktober 1990 blieb keine Zeit, alle Bedenkenträger zu überzeugen und in einer langwierigen Wiedervereinigungs- und Verfassungsdiskussion mitzunehmen.
Auch wenn die DDR am 9. November politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrott war, wurden die sozialen Kompetenzen und ihre Erfahrungen einer friedlichen und von Zivilcourage getragenen Revolution nach dem 9. November 1989 zu wenig gewürdigt, ernstgenommen und im neuen gemeinsamen Deutschland sträflich vernachlässigt, ja ignoriert.
Auch wenn sich die staatlich gelenkte Planwirtschaft der DDR als nicht funktional erwiesen hat, hätten die DDR-Erfahrungen mit Krippen, Polykliniken, und genossenschaftlichen Betriebs- und Produktionsformen durch aus in der sozialen Marktwirtschaft liberaler und demokratischer Prägung, etwa im Sinne einer christlichen und humanistischen Sozialethik, gemeinwohlorientiert weiterentwickelt werden können.
35 Jahre danach leben wir in einer multipolaren und unübersichtlichen Welt, so dass man sich fast nach der eindeutigen Konflikt- und Friedensordnung des Kalten Krieges zurücksehnen könnte.
Wir müssen als Deutsche in Europa, siehe Trump und Co, erkennen, dass es Amerika heute nicht mehr besser hat und wir uns aif seinen transatlantischen Schutzschirm in internationalen Konfliktfällen nicht mehr verlassen können.
Allen anderslautenden Durchhalteparolen, ist die Europäische Union und die europäischen Nato-Staaten auf diese nicht ganz neue Realität und Einsicht nicht vorbereitet.
Kann man den 9. November 1989 als Glücksmoment der deutschen Geschichte und den 9. November 1918 als einen schmerzvollen, aber unvermeidlichen Transformationsprozess begreifen, so bleiben der 9. November 1923, als Hitler versuchte die Weimarer Republik wegzuputschen und der 9. November 1938, an dem die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland einen ersten Höhepunkt erreichte, der die Tür zum Völkermord des Holocaust öffnete, unauslöschliche Tiefpunkte und Schandmale der deutschen Geschichte.
Doch wir haben, wenn auch spät, als Deutsche aus der Not eine Tugend gemacht und unsere Geschichte selbstkritischer aufgearbeitet und reflektiert, als manche andere Nationen.
Dabei konnten wir an das Erbe anknüpfen, das uns die Blutzeugen im deutschen Widerstand gegen Hitler hinterlassen haben. Staufenberg und Scholl sind nur zwei von vielen Namen, die in diesem Kontext uns bis heute als geistiger und moralischer Kompass dienen können.
Deshalb brauchen wird auch, anders, als von einigen Exponenten des politisch rechten Randes, keine Geschichtswende um 180 Grad. Die unvergleichlichen Menschheitsverbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen begangen worden sind, sind kein Vogelschiss der deutschen Geschichte, den mal wegwischen könnte. Sophie Scholl hat zurecht gemahnt: "Die Verbrechen, die heute im deutschen Namen begangen werden, werden uns noch in 1000 Jahren anhängen." Doch wenn wir auch aus den deunkelsten Kapiteln unserer Geschichte heute und für morgen lernen, dann kann uns die Geschichte zur Quelle der Stärke und der Erkenntnis werden und uns so davonabhalten, den Fehler unserer Vorfahren zu wiederholen und den scheinbar so einfachen Heilsversprechen politischer Extremisten mit absolutem Macht- und Wahrheitsanspruch zu folgen. Denn nicht nur im privaten, sondern auch im politischen Raum bleibt Erich Kästners Erkenntnis zeitlos aktuell: "Es geschieht nichts gutes, außer man tut es!"
Erinnern für heute und morgen