Dienstag, 3. Juni 2025

Ihrer Zeit weit voraus

Das die vermeintlich guten alten Zeiten gar nicht so gut waren, kann man in den Erinnerungen der ersten deutschen Polizeiassistentin Henriette Arendt anno 1910 anschaulich nachlesen. 

Dort berichtet sie über verwahrloste Kinder, die von ihrem abwesenden und überforderten Eltern allein gelassen und so dem sicheren Tod preisgegeben werden. Sie berichtet von Dienstmädchen, die von ihrer Herrschaft geschwängert, auf die Straße gesetzt worden sind und in ihrer ausweglosen Not auch schon mal ihr neugeborenes Kind in einen Brunnen werfen, um es ertrinken zu lassen oder im besseren Fall es bei der Polizei abzugeben und sich aus dem Staub zu machen. 

Arendt, die 1903 als Krankenpflegern zur Stuttgarter Polizei kommt, berichtet auch von einem kleinen betrunkenen Mädchen, das ganz begeistert von seinem regelmäßig betrunkenen Vater erzählt. Er nehme es mit in die Kneipe und gebe ihn dort reichlich zu trinken gibt, um es anschließend unter dem Tisch schlafen zu lassen. 

Henriette Arendt, eine selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die 1874 in eine ostpreußische Kaufmannsfamilie hineingeboren wird, entscheidet sich gegen eine Tätigkeit als Buchhalterin und für den sozialen Beruf der Krankenpflegerin. 

Vermittelt von der Vorsitzenden ihres Berufsverbandes, kommt sie 1903 zur Stuttgarter Polizei. Dort wird sie eingestellt, um ihren männlichen Kollegen bei Vernehmungen und ärztlichen Untersuchungen junger und weiblicher Strafgefangener zu assistieren. Schnell erkennt sie die sozialen Ursachen, die Frauen dazu treiben, sich zu prostituieren, zu trinken, ihre Kinder verwahrlosen zu lassen oder sie zu töten.

Arendt setzt sich nach Kräften für ihre vom Leben gebeutelten Schützlinge ein. Doch in einer Gesellschaft, die Frauen nur ein Leben unter den Vorzeichen der 3 Ks: Kinder, Küche gestattet wird, und in der sie selbst als eine von bald 65 deutschen Polizeiassistentinnen schlechte Karten. Denn ihren männlichen Kollegen darf sie nur zuarbeiten und ihren Anweisungen muss sie folgen. Immer wieder berichtet sie von "bürokratischer Engherzigkeit", von der sie ihrer Fürsorge für gefallene Frauen und Mädchen ausgebremst wird.

Ihr größter Fehler ist in den Augen ihrer männlichen Vorgesetzten, dass sie ihre An- und Einsichten zur realexistierenden Doppelmoral einer bürgerlichen Klassengesellschaft in Vorträgen, Zeitungsartikeln und Büchern öffentlich macht und damit die vermeintlich gute Gesellschaft schlechtmacht. Ihre Vorgesetzten sprechen von "Sensationsjournalismus" und weisen darauf hin, dass auch Arendts männliche Kollegen diesen betreiben könnten, es aber nicht täten, "weil sie dienstlich zu gut erzogen sind."

Trotz ihrer demütigenden Erfahrungen lässt sie sich in ihrem Tatendrang nicht entmutigen weil sie davon überzeugt ist, dass sich meine Arbeit schon gelohnt hat, "wenn ich auch nur einen Menschen gerettet und auf den rechten Pfad zurückgebracht habe".  Außerdem glaubt sie daran, dass in jedem Menschen, auch in dem Verkommensten, ein göttlicher Funke ist. 

Gar nicht gut an kommt auch ihre Kritik an den gutbürgerlichen Gesellschaft. Während die Herren der Schöpfung ihre Dienstmädchen schwängerten und sie mit ihren ungewollten Kindern dem Elend überließen, blieben sie selbst unbehelligte und gut angesehene Mitglieder der Gesellschaft, lautet ihr Vorwurf.

In ihren Vorträgen und Publikationen fordert sie eine zeitgemäße Fortsetzung der bismarckschen Sozialpolitik. "Es darf nicht sein, dass wir in unserem Staat nur Gesetze haben, mit denen wir sterben können", sagt sie mit Blick auf die von Bismarck nach 1880 eingeführten Kranken- Renten- und Invalidenrentenversicherung. In ihren Augen "brauchen wir auch Gesetze, mit denen wir leben und etwas aus uns machen können."
 
Auch wenn der deutsche Sozialstaat heute bei weitem mehr ausgebaut ist als zu Arendts Zeiten, bleibt das Lebensbeispiel die ersten deutschen Polizisten, die 1922 unverheiratete und kinderlos stirbt auch für die heutige Generation eine Mahnung, dass Sozialstaat und Solidarität in einer Gesellschaft mit Leben gefüllt werden müssen, indem jeder und jede ihren Platz in unserer Gemeinschaft finden und seine Talente entfalten kann und nicht einfach abgehängt und links liegen gelassen wird.

Denn auch heute sind Verwahrlosung und Kindstötungen leider kein Thema von Gestern. Auch die Tatsache, dass 60 Jahre nach Arendts Tod die ersten gleichberechtigten Polizeibeamtinnen in NRW eingestellt wurden und mit der Juristin Dr. Gisela Röttger-Husemann 90 Jahre nach der Einstellung der ersten deutschen Polizeiassistentin Mülheim ihr Amt als erste Polizeipräsidentin angetreten hat, haben daran nichts ändern können.

muss.

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